Kapitel 6
Julius Schelvis und sein Standardwerk über Sobibor

 

a)          Vorbemerkung

Seit seinem erstmaligen Erscheinen im Jahre 1993 hat Julius Schelvis’ Buch Vernietigingskamp Sobibor nicht weniger als acht Auflagen erlebt. Es wurde 1998 unter dem Titel Vernichtungslager Sobibor ins Deutsche und 2006 ins Englische übersetzt. Zwischen den verschiedenen Auflagen bestehen in wichtigen Punkten erhebliche Unterschiede. Bei der folgenden Besprechung gehen wir wie folgt vor: Wo die deutsche Version sowie die bisher letzte, 2008 erschienenen niederländische Ausgabe übereinstimmen, zitieren wir nach der deutschen Fassung, bzw. geben die betreffende Seitenzahl dieser letzteren an. Wo Diskrepanzen auftreten, betrachten wir die hollländische Version von 2008 als verbindlich, da man davon ausgehen darf, dass sie die heutigen Auffassungen des Autors widerspiegelt. In jedem einzelnen Fall vermerken wir, ob wir die deutsche Fassung von 1998 oder auf die niederländische Version von 2008 zitieren.

J. Schelvis’ Interesse an Sobibor hat einen sehr tragischen persönlichen Hintergrund: Am 1. Juni 1943 wurde er zusammen mit 3.005 anderen holländischen Juden, darunter seine Gattin Rachel und andere Verwandten, nach Sobibor deportiert. Als einer von rund 80 Häftlingen wurde er von dort aus bereits nach wenigen Stunden in das Arbeitslager Doruhuzca überstellt. Nach einer zweijährigen Odyssee durch Polen und Deutschland wurde er am 8. April 1945 im süddeutschen Vaihingen durch französische Truppen befreit. Seinen Angaben zufolge war er der einzige Überlebende seines Transports (S. 12, 13).

Mit seiner umfangreichen Bibliographie und seiner Fülle an Fussnoten tut Vernietigingskamp Sobibor in formaler Hinsicht sämtlichen Kriterien einer wissenschaftlichen Studie Genüge.

b)          Schelvis’ Umgang mit den Augenzeugenberichten

Im Gegensatz zu fast all seinen Vorgängern erweist sich J. Schelvis bei seiner Schilderung des „Vernichtungslagers“ als intelligenter Pragmatiker, der allerlei unnützen Ballast der traditionellen Geschichtsschreibung über Sobibor über Bord wirft. Er verzichtet weitgehend auf jene Horrorgeschichten, welche beispielsweise die Auslassungen einer M. Novitch in den Augen eines jeden denkfähigen Lesers von vorneherein unglaubwürdig machen. Seine SS-Männer schlagen die Juden zwar mit Peitschen und Stöcken, wenn sie nicht rasch genug arbeiten, nehmen jedoch davon Abstand, ihnen Ratten in die Hosen einzunähen, ihnen in den Mund zu urinieren und Säuglinge in der Luft zu zerreissen; der SS-Mann Bredow galt zwar „bei den Gefangenen als Gewaltmensch, der sie in einem fort misshandelte (S. 299, deutsche Version), legte aber nicht, wie bei M. Novitch, Tag für Tag fünfzig Juden mit seiner Maschinenpistole um.

Bei seinem Umgang mit den Augenzeugenberichten bedient sich Schelvis der Taktik, alle von vorneherein unglaubhaften Passagen auszumerzen. So räumt er in seinem Kapitel über den Aufstand den Ausführungen des Schlüsselzeugen Alexander Petscherski zwar viel Platz ein, und die 1967 erschienene englische Übersetzung von Petscherskis Bericht aus dem Jahre 1946 erscheint in der Bibliographie, doch werden Aussagen, die einen aufmerksamen und mit der Standardversion von Sobibor vertrauten Leser misstrauisch stimmen müssten – Petscherskis bizarre Beschreibung des Ausrottungsprozesses etwa oder seine vom Standpunkt der orthodoxen Geschichtsschreibung aus anachronistische Behauptung, noch im September 1943 sei in Sobibor jeden zweiten Tag ein Transport von Neuankömmlingen vernichtet worden -, sorgfältig ausgeblendet. In anderen Worten: Schelvis behandelt die Zeugenaussagen selektiv, so dass ein Leser, der nicht zu den Originalquellen greift, ihre Absurdität nicht erkennt.

c)         Schelvis’ revidierte Opferzahl

Auch bei der Festlegung der Opferzahl des Lagers geht Schelvis pragmatisch vor und beharrt – im Gegensatz zu B. Distel und Konsorten – nicht stur auf der seit Bekanntwerden des Höfle-Funkspruchs unmöglich gewordenen alten Zahl von ungefähr 250.000 Opfern. Hatte er in der deutschen Fassung noch 236.000 bis 257.000 nach Sobibor Deportierte (und dort bis auf eine Handvoll Ausnahmen Ausgerottete) postuliert (S. 283), so schrieb er in der holländischen Ausgabe von 2008:

„Jahrelang wurde davon ausgegangen, dass zwischen 200.000 und 250.000 Juden ins Vernichtungslager Sobibor deportiert wurden. Neue Forschungen ergeben, dass diese Ziffer nach unten revidiert werden muss. Die [neue] Zahl fusst auf einem Funkspruch von Hermann Höfle, der als SS-Sturmbannführer einer der Spitzenfunktionäre der Aktion Reinhardt in Lublin war“ (S. 266).

1942 erfolgten Deportationen nach Sobibor aus dem Protektorat Böhmen und Mähren, der Slowakei, Deutschland (einschliesslich Österreichs) und dem Generalgouvernement. In der niederländischen Version seines Buchs liefert Schelvis folgende Angaben über die Anzahl der aus diesen Ländern nach Sobibor deportierten Juden:

            Protektorat Böhmen und Mähren:              10.000 (S. 250);         
            Slowakei:                                            28.284 (S. 255);
Deutschland  inkl. Österreich:                    23.500 (S. 263).

Bezüglich des Generalgouvernements legt sich Schelvis nicht fest, sondern zitiert lediglich Schätzungen anderer Autoren (S. 265). Da die Anzahl der bis zum 31. Dezember 1942 nach Sobibor gelangten Deportierten dank dem Höfle-Funkspruch genau bekannt ist (101.370), ergibt eine einfache Subtraktion jedoch, dass, wenn Schelvis’ Ziffern für die erstgenannten drei Länder stimmen, im Verlauf des Jahres 1942 (101.370 – 10.000 – 28.284 – 23.500 =) 39.586 polnische Juden in Sobibor eingetroffen sein müssen.

Für 1943 präsentiert Schelvis auf S. 267 der niederländischen Ausgabe folgende Statistik der Deportationen:

Ostland (Lida, Minsk, Vilnius):                      13.700
Generalgouvernement:                                   14.900
Holland:                                                          34.313
Frankreich:                                                        3.500
Skopje :                                                             2.382
Insgesamt:                                                     68.795

Somit ergibt sich nach Schelvis folgende Gesamtbilanz:

   Land

     1942

     1943

Insgesamt

Holland

         -

     34.313

   34.313

Skopje

         -

       2.382

      2.382

Frankreich

         -

       3.500

      3.500

Ostland

         -

     13.700

    13.700

Generalgouv.

     39.586

     14.900

    54.486

Slowakei

     28.284

         -

    28.284

Protektorat

     10.000

         -

    10.000

Deutschland inkl. Österreich

     23.500

         -

    23.500

Insgesamt

   101.370

  68.795

  170.165

 

Wir weisen darauf hin, dass Schelvis’ Zahl für Frankreich um rund 1.500 höher ist als diejenige Serge Klarsfelds, der in seinem Standardwerk Le Mémorial de la Déportation des Juifs de France von insgesamt 2.002 nach Sobibor deportierten Juden spricht . Bezüglich der besetzten Ostgebiete stützt sich Schelvis ausschliesslich auf Augenzeugenberichte; er geht von sechs Transporten sowie einem „möglichen siebten und achten Transport“ aus (S. 259, niederländische Fassung). Wir schliessen daraus, dass es keine dokumentarischen Unterlagen über diese Transporte gibt – was natürlich nicht heissen muss, dass sie nicht stattgefunden haben. An der Anwesenheit Alexander Petscherskis und anderer sowjetischer Juden in Sobibor ist nicht der geringste Zweifel statthaft, auch wenn sich der betreffende Transport nicht dokumentarisch belegen lässt.

Unter diesen Umständen ist die Vermutung statthaft, dass Schelvis’ Zahl von 68.795 im Jahre 1943 nach Sobibor gelangten Juden – und entsprechend auch seine Gesamtzahl von ca. 170.000 Deportierten - zu hoch ist und vermutlich um einige tausend verringert werden muss. Dass seine Statistik der Grössenordnung nach stimmt, unterliegt allerdings keinem Zweifel.

 

d)      Das Problem der Gaskammern

Um zu beweisen, dass die Deportierten bis auf wenige Ausnahmen vergast wurden, muss Schelvis natürlich den Nachweis dafür erbringen können, dass das Lager mit Gaskammern zur Menschentötung ausgerüstet war. Betrachten wir nun, wie er diese Aufgabe in seinem Kapitel „Die Gaskammern“ zu lösen versucht.
Auf den ersten vier Seiten dieses Kapitels skizziert er, gestützt auf Augenzeugenberichte, die Entstehung der (angeblichen) Gaskammern von Belzec. Er zitiert eingangs eine 1945 abgegebene Erklärung des Polen Stanislaw Kozak, der beim Bau der ersten Gaskammer in Belzec mitgewirkt haben will. Bei dieser handelte es sich Kozak zufolge um ein 12 x 8 m grosses, rund zwei Meter hohes Gebäude, das durch hölzerne Wände in drei Räume unterteilt war (S. 113/114, deutsche Fassung). Schelvis führt anschliessend mehrere Zeugenaussagen über Belzec an und fährt fort:

„Die ersten Gaskammern in Sobibor wurden nach dem ursprünglichen Modell von Belzec gebaut. […] Der Motor, der das tödliche Gas produzieren konnte, war aus Lemberg geholt und an die Leitung angeschlossen worden. Erich Fuchs, der die Maschine abgeholt hatte, sagte dazu…“

Es folgt die Aussage des ehemaligen SS-Mannes E. Fuchs, abgegeben am 2. April 1965 während einer Vernehmung in Düsseldorf (S. 118/119, deutsche Fassung). Hierauf schliessen sich andere, ebenfalls aus den sechziger Jahren stammende Erklärungen früherer Angehöriger des Lagerpersonals von Sobibor an, darunter eine von Erich Bauer vom 6. Oktober 1965 im Rahmen des Sobibor-Prozesses in Hagen abgegebene. Schelvis kommentiert Bauers Äusserungen wie folgt:

„Aus seiner Aussage kann man die Schlussfolgerung ziehen, dass die Gaskammern in Sobibor mit denen in Belzec identisch waren. Ende April fand die erste Probevergasung statt“ (S. 120, deutsche Fassung).

Als Zeuge für diese „Probevergasungen“ dient abermals E. Bauer. Die meisten Fussnoten des Kapitels über die „Gaskammern“ verweisen auf Gerichtsverfahren in der BRD. Schlagender könnte kaum demonstriert werden, dass die „Beweise“ für die Menschenvergasungen in Sobibor lange nach Kriegsende von der westdeutschen Justiz fabriziert worden sind.
Auf die Zeugenaussagen der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit kann sich Schelvis in der Tat nicht berufen, denn keiner dieser Zeugen hatte von einem in mehrere Räume untergliederten Vergasungsgebäude gesprochen, in denen Menschen mit Motorabgasen umgebracht wurden. Sofern sich die ersten Zeugen überhaupt zur Tatwaffe äusserten und den Vernichtungsprozess beschrieben, erwähnten sie ganz andere Mordmethoden, vor allem Chlor oder (im Fall Petscherski) eine nicht näher definierte „schwarze Flüssigkeit“ . Die heutige Version - Tötung der Häftlinge mit Motorabgasen in einem in mehrere Gaskammern unterteilten Gebäude - war erstmals 1947 von der „Kommission zur Untersuchung der deutschen Verbrechen in Polen“ aufgestellt worden, welche diese Behauptung freilich nicht mit Zeugenaussagen untermauerte, sondern mit allergrösster Wahrscheinlichkeit dem Gerstein-Bericht über Belzec entnahm .
Gleich zu Beginn des Schelvis-Buchs fndet sich folgende, fürwahr erstaunliche Passage:

„Einige polnische Überlebende haben 1944 kurz nach der Befreiung Polens, als von Prozessen noch keine Rede war, Aussagen über die Ereignisse im Lager und die dort aktiven Verbrecher gemacht. Sie litten noch so sehr unter der Tortur, dass sie namentlich genannten Schergen spezifische Verbrechen zugeschrieben haben, derer sie sich Jahre später nicht mehr sicher waren. Teilweise kannten sie auch nur die Vornamen. Diese Aussagen müssen als Zeitdokumente betrachtet werden und nicht als juristisches Beweismaterial, bei dem es auf jedes Detail ankommt. Trotz der Ungenauigkeiten sind sie von grossem Wert, weil sie aus der noch frischen Erinnerung aufgezeichnet und nicht nachträglich von mündlichen oder schriftlichen Aussagen anderer beeinflusst wurden“ (S. 14, deutsche Fassung).

Ohne es zu ahnen, fällt Schelvis hier ein vernichtendes Urteil über den Wert der Zeugenaussagen zu Sobibor. Wenn schon die Belastungszeugen, die sich 1944 oder kurz danach zu Wort gemeldet hatten, „Jahre später“ nicht mehr wussten, ob sich die von ihnen behaupteten Verbrechen wirklich zugetragen hatten, wie kann man dann die Erklärungen von Zeugen, die erst zwei Jahrzehnte nach Kriegsende aussagten, als unumstössliche Wahrheit anerkennen? Schliesslich pflegt das menschliche Erinnerungsvermögen mit dem Vergehen der Jahre gemeinhin nicht besser, sondern schlechter zu werden.
 Noch entlarvender ist Schelvis’ Aussage, die Erklärungen der frühen Zeugen seien von grossem Wert, weil sie „aus der noch frischen Erinnerung aufgezeichnet und nicht nachträglich von mündlichen oder schriftlichen Aussagen anderer beeinflusst wurden“. Im Klartext bedeutet dieser Satz nämlich, dass die späteren, bei den Prozessen der fünfziger und sechziger Jahren aufgebotenen Zeugen „von mündlichen oder schriftlichen Aussagen anderer“ beeinflusst worden sind. Dies muss in der Tat der Fall gewesen sein, denn dass es in Sobibor ein in mehrere Kammern unterteiltes Vergasungsgebäude gab, in dem die Juden mit Motorabgasen zu Tode gebracht wurden, hatte kein einziger dieser Zeugen in den unmittelbaren Nachkriegsjahren je behauptet!
In Übereinstimmung mit den anderen orthodoxen Historikern gibt Schelvis an, ab Herbst 1942 seien die Leichen der Ermordeten in Sobibor ausgegraben und unter freiem Himmel verbrannt worden. Welch immense technische Schwierigkeiten, welche die Einäscherung von 170.000 Leichen unter freiem Himmel mit sich gebracht hätte, ist ihm offenbar nicht bewusst. Prof. Andrzej Kolas im Jahre 2001 publizierten Artikel über die archäologischen Bohrungen und Grabungen auf dem ehemaligen Lagergelände erwähnt Schelvis in der sieben Jahre später erschienenen niederländischen Fassung seines Buchs aufschlussreicherweise mit keinem Sterbenswörtchen, obwohl die Existenz dieses fundamentalen Textes ihm als ausgewiesenem Sobibor-Fachmann ganz unmöglich verborgen geblieben sein kann.
J. Schelvis’ Buch ist zweifellos das Beste, was die Verfechter des offiziellen Sobibor-Bildes aufbieten können, doch manchmal ist auch das Beste nicht gut genug. So wenig wie seine Vorgänger vermag Schelvis auch nur die Spur eines Beweises dafür zu erbringen, dass die nach Sobibor deportierten Juden dort in Gaskammern ermordet worden sind – weil nicht einmal ein Ehrendoktor der Universität Amsterdam einen solchen Beweis aus dem Nichts herbeizaubern kann.

d)    Ein unfreiwilliger Hinweis auf die wahre Funktion des Lagers

Selbstverständlich müssen sich die Kritiker des orthodoxen Sobibor-Bildes der Frage stellen, was denn mit den (bis zu 170.000) nach Sobibor gebrachten Juden geschah. Den Schlüssel zur Lösung dieser Frage liefert Schelvis selbst. Wir zitieren nun einen längeren Auszug aus seinem Kapitel „Ankunft und Selektion“:

„Die Abwicklung der Transporte verlief nach einer gewissen Zeit routinemässig. […] Sobald die Neuankömmlinge die Gepäckbaracke verlassen hatten, wurden die Männer von den Frauen getrennt. Die Männer kamen in Lager 2 zum Auskleideplatz, die Frauen in einen anderen Teil des Lagers. Wenn es nicht schon an der Rampe geschehen war, hielt ein SS-Mann eine kurze Ansprache. In den meisten Fälen war das, bis zu seiner Versetzung nach Treblinka, der SS-Oberscharführer Hermann Michel. Von den Arbeitshäftlingen wurde er Doktor genannt, weil er einen weissen Kittel trug, wenn er vor der Menge stand und seine Rede hielt. […] Michel sagte etwa Folgendes: ‚Weil Krieg ist, werden alle arbeiten müssen. Sie werden irgendwohin gebracht werden. Es wird Ihnen dort gut gehen. Alte und Kinder brauchen nicht zu arbeiten, werden aber dennoch gut zu essen bekommen. Sie müssen Ihren Körper sauber halten. Die Umstände, unter denen Sie gerade gereist sind, und das Zusammensein so vieler Menschen in einem Waggon machen es erforderlich, dass hygienische Vorkehrungen getroffen werden. Darum müssen Sie sich sogleich ausziehen und duschen gehen. Ihre Kleidung und Ihr Gepäck werden bewacht. Ihre Kleidung müssen Sie ordentlich auf einen Stapel legen und Ihre Schuhe paarweise aneinander binden. Diese müssen Sie davor stellen. Wertgegenstände wie Gold, Geld und Uhren geben Sie dort bei dem Kiosk ab. Die Nummern, die der Mann hinter dem Schalter Ihnen zuruft, müssen Sie sich gut merken, so dass Sie Ihren Besitz gleich wiederfinden können. Wenn wir bei Ihnen nach dem Dusche noch Wertgegenstände finden, werden Sie bestraft. Handtücher und Seife brauchen Sie nicht mitzunehmen, weil alles vorrätig ist; es gibt ein Handtuch für zwei Personen. […]
Michel hielt seine Rede, die den Leuten etwas vorgaukeln sollte, voller Überzeugungskraft. Von den Arbeitshäftlingen wurde er ausser Doktor auch Pastor genannt. Hin und wieder erzählte er, dass das Lager ein Durchgangslager sei und die Weiterfahrt in die Ukraine nur eine Frage der Zeit sei. Bisweilen behauptete er auch, dass sie nach Riga kämen“ (deutsche Fassung, S. 84).

Bald darauf, so Schelvis, traten die gröblich Getäuschten den Gang in die Gaskammern an.
Wozu war dieses Theater nötig? Um eventuelle Fluchtversuche zu verhüten? Solche wären von Anfang an hoffnungslos gewesen, denn die ukrainischen Wächter, die „im allgemeinen übereifrige und fanatische Bewacher waren“ und „ihre deutschen Lehrmeister häufig noch an Grausamkeit übertrafen“, riegelten „bei Ankunft von Transporten die Umgebung ab, um die Neuankömmlinge an eventuellen Fluchtversuchen zu hindern“ (deutsche Fassung, S. 46, 47).
War die Ansprache notwendig, um Widerstand zu verhindern? Kaum, denn solcher war seitens der verängstigten, von der langen Fahrt erschöpften Deportierten nicht ernstlich zu erwarten. Sie hätten einigen kurzen, in grobem und drohendem Ton erteilten Befehlen widerspruchslos gehorcht.
Wozu also diese Ansprache? Weshalb erzählte der SS-Mann den neu Angekommenen, Sobibor sei ein Durchgangslager, von wo aus sie bald in die Ukraine – oder nach Riga – weiterreisen würden? Wer mit logischer Denkfähigkeit gesegnet ist, für den gibt es auf diese Fragen nur eine einzige mögliche Antwort.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Julius Schelvis, Vernichtungslager Sobibor, Metropol Verlag, Berlin 1998.

Jules Schelvis, Sobibor. A History of a Nazi Death Camp, Berg Publishers, Oxford 2006.

Julius Schelvis, Vernietigingskamp Sobibor, De Bataafsche Leeuw, Amsterdam 2008.

Siehe Kapitel 3.

Skopje gehörte damals zu Bulgarien.

Serge Klarsfeld, Le Mémorial de la Déportation des Juifs de France, Paris 1978. Klarsfelds Buch weist keine Seitenzahlen auf. In einer „chronologischen Tabelle der Deportationszüge“ erwähnt er zwei Transporte aus Frankreich nach Sobibor, von denen der erste am 23. März 1943 mit 994 und der zweite am 25. März 1943 mit 1.008 Deportierten abging.

Siehe Kapitel 4.

Ebenda.

Auf diesen Artikel gehen wir später ein.