Kapitel 10
Die beiden Sobibor-Prozesse von 1950
a) Prozesse als Grundlage der Geschichtsschreibung
Nachdem die westlichen Siegermächte ihren Vasallenstaat „Bundesrepublik Deutschland“ aus der Taufe gehoben hatten, beauftragten dessen Führer die Justiz damit, Beweise für die Fata Morgana eines millionenfachen Mordes in Gaskammern herbeizuzaubern, von dem nicht die geringsten Spuren übriggeblieben waren. Um dies zu belegen, brauchen wir nur zu zitieren, was Martin Broszat, langjähriger Leiter des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, in seiner Einleitung zu Adalbert Rückerls Dokumentation über die „NS-Vernichtungslager“ schrieb:
„Ohne einer historischen Untersuchung und Bewertung der Rolle der deutschen Justiz bei der Verfolgung von NS-Verbrechen vorgreifen zu wollen, kann als Bilanz, gerade auch der Tätigkeit der zentralen Stelle [in Ludwigsburg], das eine schon heute festgehalten werden: Die Bedeutung der umfangreichen staatsanwaltschaftlichen und gerichtlichen Ermittlungen, die in der Bundesrepublik auf diesem Gebiet seit Ende der fünfziger Jahre einsetzten, lässt sich nicht nur von ihren – oft geringfügigen – Verurteilungsquoten her bemessen. […] Obgleich das Faktum der ‚Endlösung der Judenfrage’ in fast allen Geschichts- und Schulbüchern über die NS-Zeit vermerkt ist, sind die einzelnen Modalitäten der grauenhaften Vorgänge bisher kaum systematisch dokumentiert worden. Ihre methodische Verschleierung durch die beteiligten Diensstellen des Regimes und die gründliche Spurenverwischung nach Abschluss der Aktionen, vor allem in den sorgsam verborgenen grossen Vernichtungslagern in den besetzten polnischen Gebieten, haben eine exakte Rekonstruktion des Geschehens lange Zeit erschwert oder verhindert. Trotz ungünstiger Ausgangslage hat die jahrelange Kleinarbeit der justiziellen Ermittlungen schliesslich zu einer breiten Evidenz der Fakten und Zusammenhänge geführt.“
Fassen wir zusammen: Obwohl „fast alle Geschichts- und Schulbücher“ die „Endlösung der Judenfrage“ – worunter die orthodoxen Historiker die physische Vernichtung der Juden verstehen – vermerkten, war diese bis dahin „kaum systematisch dokumentiert“ worden; dies geschah erst dank der „jahrelangen Kleinarbeit der justiziellen Ermittlungen“! In anderen Worten: Die Staatsanwälte und Richter mussten den Historikern zur Hilfe eilen, um das bisher Unbewiesene nachträglich doch noch zu beweisen.
b) Der „Gasmeister von Sobibor“
M. Broszats Behauptung, dass die „umfangreichen staatsanwaltschaftlichen und gerichtlichen Ermittlungen“ in der BRD erst „Ende der fünfziger Jahre“ einsetzten, entspricht nicht den Tatsachen: Die ersten Verfahren gegen SS-Männer, die während des Krieges in den sogenannten „Vernichtungslagern“ stationiert gewesen waren, fanden nämlich bereits 1950 statt. Wie die Gerichte dabei vorgingen, lässt sich sehr anschaulich am Beispiel des Prozesses gegen den ehemaligen Kraftfahrer, SS-Oberscharführer und angeblichen „Gasmeister von Sobibor“ Erich Bauer zeigen, der 1950 in Berlin wegen „fortgesetzter Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zum Tode verurteilt wurde . Nach der Abschaffung der Todesstrafe wurde das Urteil in lebenslange Haft umgewandelt.
Gegen Bauer wurden insgesamt elf Anklagepunkte erhoben, von denen der erste und schwerwiegendste wie folgt lautete:
„Tätigkeit als Gasmeister. Sobald ein neuer Transport von Häftlingen im Lager eingetroffen war und sich entkleidet hatte, geleitete sie der Angeklagte, der bei den Häftlingen schon damals als ‚Bademeister’ bekannt war, in die als Bad getarnte Gaskammer. Dabei schritt er dem Zuge teils voran, teils ging er neben den Häftlingen und trieb sie mit Stockschlägen zu schnellerer Gangart an. Im Lager III bediente er dann als einziger die Gasanlage, um sie zu vernichten“ .
Worauf beruhten diese Behauptungen? In den frühesten Zeugenaussagen über Sobibor wird Erich Bauer entweder gar nicht oder nur beiläufig erwähnt. Weder in den beiden Petscherski-Berichten noch im Augenzeugenbericht Leon Feldhendlers – in dem immerhin zehn SS-Männer namentlich genannt werden - stösst man auf seinen Namen. Zelda Metz zählt insgesamt siebzehn in Sobibor stationierte SS-Männer auf, darunter auch Bauer , lastet jedoch keinem von ihnen spezifische Verbrechen an. Bauers Ernennung zum „Gasmeister“ ist, dem uns vorliegenden Quellenmaterial nach zu urteilen, das Werk der ehemaligen Sobibor-Häftlinge Esther Raab und Samuel Lerer, die in Berlin als Belastungszeugen gegen Bauer auftraten.
c) Die Belastungszeugen Esther Raab und Samuel Lerer
In einem Buch, das ausschliesslich auf den Aussagen Esther Raabs beruht, schildert die Verfasserin Shaindy Perl die Umstände, die zur Verhaftung Bauers führten, wie folgt: Esther Raab und Samuel Lerer hätten nach dem Krieg in Berlin gewohnt. Eines Tages sei S. Lerer in E. Raabs Wohnung gestürmt und habe ihr aufgeregt mitgeteilt, dass er Bauer in einem Vergnügungspark mit seiner Familie auf einem Riesenrad entdeckt habe. Die beiden seien gemeinsam zum Vergnügungspark gerannt und hätten einen Polizisten mit zwei Pfund Kaffee dazu bestochen, Bauer zu verhaften:
„Der Polizist starrte gierig auf den Sack Kaffee. ‚Okay’, sagte er schliesslich, ‚aber ich hoffe, ihr beiden irrt euch nicht.’ Esther und Samuel versicherten ihm, dass dies nicht der Fall sei. Dann beobachteten sie mit ängstlicher Spannung, wie der Polizist auf Erich Bauer zutrat und ihm etwas zuflüsterte. Bauer erbleichte; der Polizist fasste ihn beim Arm und führte ihn ab.“ .
Ob diese Darstellung glaubhaft ist, mag der Leser selbst beurteilen. Tatsache ist, dass sich das Berliner Gericht bei seinem Urteil gegen Bauer fast ausschliesslich auf die Aussagen der Zeugen „R.“ (Raab) und „L.“ (Lerer) abstützte. (Die zwei einzigen anderen Zeugen, die „kommissarisch vernommenen, inzwischen ausgewanderten ehemaligen Häftlinge ‚B.’ und ‚C.’“, werden nur beiläufig erwähnt.).
Unter diesen Umständen ist die Frage nach der Glaubwürdigkeit E. Raabs und S. Lerers von zentraler Bedeutung. Über S. Lerer wissen wir wenig, doch dass er die Zahl der Sobibor-Opfer mit einer Million angab , spricht bereits Bände. Die notorische Unzuverlässigkeit der Zeugin E. Raab geht daraus hervor, dass sie ihre Quasi-Biographin Shaindy Perl in elementaren Fragen falsch informiert hat. Hier einige Auszüge aus S. Perls Buch, das, wie bereits erwähnt, ausschliesslich auf den Aussagen E. Raabs fusst:
„Einen Tag vor seiner Abreise [nach Amerika] stürmte Samuel plötzlich in Esthers Wohnung; sein Gesicht war rot vor Erregung. ‚Esther, komm schnell! Er ist es!“ (…). „Da Samuels Abreise aus Deutschland für den nächsten Tag geplant war, folgte er dem Polizisten auf den Posten und gab dort eine kurze Erklärung zu den Verbrechen ab, die SS-Oberscharführer Erich Bauer in Sobibor begangen hatte.“ (…). „Samuels Zeugenaussage dauerte bis in den späten Nachmittag, und es wurde schon Abend, als er den Posten endlich verliess. Er rannte nach Hause, um fertig zu packen, und am nächsten Tag verliess er das Land wie geplant. Nun war Esther die einzige Person, die als Zeugin gegen den berüchtigten Bademeister aussagen konnte. “
Diese Schilderung wird durch den Text des Urteils gegen E. Bauer kategorisch widerlegt. Nachdem Bauers Verteidiger verlangt hatte, die Zeugen „L.“ und „R.“ (Lerer und Raab) mit den beiden ehemaligen SS-Männern „G.“ (Hubert Gomerski) und „K.“ (Johann Klier) zu konfrontieren, lehnte das Gericht diese Forderung mit folgender Begründung ab:
„Mit einer Vertagung der Hauptverhandlung würde auch ein anderer vom Verteidiger ins Auge gefasster Zweck seines Antrages, nämlich eine Gegenüberstellung dieser Zeugen mit den Zeugen L. und R., nicht erreicht werden, da letztere ihre Auswanderung in kürzerster Zeit angekündigt haben, so dass eine neue Hauptverhandlung ohne sie stattfinden müssten“ .
Somit war Samuel Lerer zum Zeitpunkt des Prozesses durchaus noch nicht ausgewandert, sondern weilte immer noch in Berlin und waltete als Belastungszeuge gegen Bauer! Die Verhaftung Bauers war übrigens bereits im Jahre 1949 erfolgt , so dass zwischen der Erkennung Bauers durch Lerer und dem Prozess mehrere Monate verstrichen sein müssen. Da E. Raab diesen Umstand, sowie die Teilnahme Lerers am Verfahren gegen Bauer, unmöglich vergessen haben kann, muss sie S. Perl gezielt belogen haben. Als einziges mögliches Motiv hierfür kommt Geltungssucht in Frage – E. Raab wollte sich offenbar im Glanz des Ruhmes sonnen, Bauer ganz alleine, ohne Lerers Mithilfe, zur Strecke gebracht zu haben.
Hier ein weiterer Auszug aus S. Perls Buch:
„Einige Wochen später [nach dem Bauer-Prozess] setzte sich ein Staatsanwalt aus Frankfurt mit ihr in Verbindung. ‚Sind Sie die Frau, die kürzlich gegen Erich Bauer ausgesagt hat?’ fragte er. ‚Wir haben Hubert Gomerski und Joseph [richtig: Johann] Klier verhaftet. Wir stellen sie hier in Frankfurt vor Gericht. Werden Sie kommen, um sich uns als Zeugin zur Verfügung zu stellen?’ Esther hatte keine Wahl. Es gab so wenige Überlebende, und so viele von ihnen waren mittlerweile nach Israel oder in die USA ausgewandert. Abermals lag das Schicksal der Naziverbrecher allein in ihrer Hand.“
Abgesehen davon, dass sich Gomerski und Klier schon während des Bauer-Prozesses in Untersuchungshaft befanden und keineswegs erst „einige Wochen“ nach diesem verhaftet wurden, lag das Schicksal dieser beiden ehemaligen SS-Männer durchaus nicht allein in der Hand E. Raabs, wie diese ihrer Biographin weisgemacht hat. Neben ihr traten in Frankfurt nämlich noch sieben weitere Zeugen auf: „L.“ (Samuel Lerer, der immer noch nicht nach Amerika ausgewandert war!), „Josef und Herz Z“, E.“, „T.“, „M.“ und „B“ . Bei ihrer Schilderung des Verfahrens gegen Gomerski und Klier würdigt E. Raab diese sieben Mitzeugen keiner Erwähnung. Sie will sich die Show nicht von lästigen Konkurrenten stehlen lassen.
Dies alles weist darauf hin, dass es sich bei der Belastungszeugin E. Raab um eine hemmungslose, profilierungssüchtige Lügnerin handelte. Das Berliner Gericht ging bei seiner Urteilsbegründung jedoch axiomatisch davon aus, dass ihre Aussagen (sowie diejenige S. Lerers) in jeder Hinsicht der Wahrheit entsprachen und somit ausreichten, den Angeklagten Bauer, der jegliche Beteiligung an Verbrechen abstritt, der Falschaussage zu überführen:
„Der Angeklagte gibt zu, schon kurz nach seinem Eintreffen im Konzentrationslager Sobibor im März oder April 1942 von den Vorkommnissen im Vernichtungslager gewusst und insbesondere auch Kenntnis davon gehabt zu haben, dass Tausende von Juden aller Nationen dort vergast und erschossen wurden; er bestreitet aber mit wenigen Ausnahmen [...], an den Greueltaten und unmenschlichen Handlungen gegenüber jüdischen Häftlingen beteiligt gewesen zu sein. Er lehnt es insbesondere ab, der Gasmeister des Lagers gewesen zu sein. Er sei dort nur Kraftfahrer gewesen, dessen Aufgabe darin bestanden habe, Proviant heranzuholen. Das Vergasen hätten anfangs aktive SS-Leute aus Oranienburg besorgt. In späterer Zeit sei ein gewisser ‚Toni’ Gasmeister gewesen, über den er keine näheren Angaben machen könne. […] Trotz seines Leugnens ist der Angeklagte in diesem Punkt auf Grund der glaubhaften eidlichen Aussagen der Zeugen L. und R., früherer Häftlinge des Lagers Sobibor, überführt. Beide identifizierten den Angeklagten als den Mann, der im Lager Sobibor als Gasmeister eingesetzt war“ .
d) Die Taktik des Angeklagten Erich Bauer
Angesichts der extrem feindseligen Einstellung des Gerichts hielt es Erich Bauer offenbar nicht für ratsam, die behaupteten Massenmorde in Sobibor zu bestreiten, da er (nicht ohne Grund) fürchtete, dies würde ihm als „hartnäckiges Leugnen“ ausgelegt und als erschwerender Umstand eingestuft. So begnügte er sich damit, die ihm persönlich vorgeworfenenen „Greueltaten und unmenschlichen Handlungen mit wenigen Ausnahmen zu bestreiten“. Unzählige Angeklagte bei NS-Prozessen haben sich nach ihm derselben Taktik bedient.
Bei dem von Bauer als „Gasmeister“ identifizierten „Toni“ dürfte es sich mit grösster Wahrscheinlichkeit um den SS-Mann Anton Getzinger gehandelt haben, der im Lager 3 als Aufseher Dienst getan hatte und einige Wochen vor dem Aufstand vom 14. Oktober 1943 beim Entschärfen einer russischen Panzergranate durch deren Explosion getötet worden war . Da das Gericht „Toni“ Getzinger nichts mehr anhaben konnte, entschloss sich Bauer offenbar, den schwarzen Peter an einen Toten weiterzugeben, indem er diesen posthum zum „Gasmeister“ ernannte. Genützt hat es ihm freilich nichts.
e) Die Logik des Gerichts
Erich Bauers Verteidiger beantragte die Anhörung der beiden – damals in Untersuchungshaft befindlichen – SS-Männer „K.“ (Klier) und „G.“ (Gomerski). Das Gericht bemerkte hierzu:
„Bei den Zeugen G. und K. handelt es sich um SS-Leute, die zur gleichen Zeit wie der Angeklagte führende Persönlichkeiten im Lager Sobibor gewesen sind und wegen der Anschuldigung, Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Lager Sobibor begangen zu haben, sich zur Zeit und auch zur Zeit ihrer kommissarischen Vernehmung vor dem Amtsgericht Frankfurt/Main in Untersuchungshaft befinden bzw. befanden […], so dass es für das Gericht keiner Frage unterlag, dass es den Aussagen der Zeugen L. und R. und nicht den unwahren Aussagen der Zeugen G. und K. zu folgen hatte.“
Für das Gericht sagten die Belastungszeugen also grundsätzlich immer die Wahrheit, während die ehemaligen SS-Männer prinzipiell stets logen – ausser in jenen Fällen natürlich, wo sie sich selbst oder ihre früheren Kameraden belasteten.
Laut dem Berliner Gericht waren in Sobibor „Hunderttausende von Juden“ vergast worden . Als „Beweis“ für diese ungeheuerliche Schlächterei genügten den Richtern die „glaubhaften eidlichen Aussagen der Zeugen L. und R.“! Wo die „Gaskammern“ lagen, wie gross sie waren, wie der Vergasungsprozess konkret ablief, was mit den Hunderttausenden von Leichen geschah – all das interessierte die Berliner Richter keinen Deut.
Den Grund für diese flagrante Verletzung rechtsstaatlicher Grundsätze nennt E. Raabs Sprachrohr Shaindy Perl:
„Da die Deutschen darauf brannten, der Welt zu beweisen, dass sie gegen die brutalen Mörder vorgingen, welche die berüchtigten Todeslager organisiert hatten, liess ihre Regierung keine Zeit verstreichen und setzte einen Termin für das Verfahren gegen Bauer fest“.
Die Deutschen führten solche Prozesse also durch, um „der Welt“ ihre Läuterung zu beweisen. Damit „die Welt“ ihnen diese Läuterung glaubte, mussten sie die Judenvernichtung in Gaskammern nicht nur als historische Tatsache anerkennen, sondern auch juristisch fixieren – und dies ging nur, wenn man die Zeugenaussagen ungeprüft akzeptierte.
f) Die erstaunlichen Erkenntnisse des Berliner Gerichts über das
KL Majdanek
Zum Abschluss sei noch ein Auszug aus dem Urteil des Berliner Gerichts zitiert, der einem förmlich den Atem verschlägt. Unter den elf Punkten, in denen Erich Bauer schuldig gesprochen wurde,
figurierte als Punkt sechs der folgende:
„Einmal kam ein Transport jüdischer Häftlinge in einer Stärke von ungefähr 15.000 Mann aus dem Lager Maidanek, das keine Vergasungsanlage besass, zum Vergasen an. Da die Vergasungsanlage im Lager Sobibor gerade nicht in Ordnung war, mussten sie tagelang im Lager I auf ihre Vernichtung warten, ohne verköstigt zu werden. Viele von ihnen starben daher an Entkräftung. Als andere, denen etwas Essen gereicht wurde, sich darum schlugen, schossen die SS-Leute und auch der Angeklagte in diesen Haufen wehrloser Menschen. Der Angeklagte tötete dabei auch mindestens vier bis fünf Häftlinge“
Gemäss dem Urteil des Berliner Gerichts von 1950 besass das KL Majdanek also keine Vergasungsanlage. Man vergleiche hiermit folgenden Auszug aus dem Urteil beim Düsseldorfer Majdanek-Prozess (1975-1981):
„Die furchtbarste Belastung für die Häftlinge, insbesondere für die jüdischen Menschen, stellten die im Spätherbst 1942 eingeleiteten und vor allem im Frühjahr und Sommer 1943 durchgeführten Selektionen zur Tötung durch Vergasung dar. […] Die Vergasung der Opfer verlief durchwegs in der gleichen Weise. Die zum Tode bestimmten Häftlinge wurden in das Barackengebäude gebracht und dort nach der Entkleidung in eine der Gaskammern getrieben. Sobald die Tür hinter ihnen luftdicht verschlossen war, wurde das Kohlenmonoxid oder Zyklon-B in die Kammer geleitet.“
Beim Majdanek-Prozess wurden zwei ehemalige Aufseherinnen jenes Lagers, Hildegard Lächert und Hermine Braunsteiner-Ryan, verurteilt, weil sie sich angeblich an der Selektion jüdischer Frauen und Kinder für die Gaskammern von Majdanek beteiligt hatten – Gaskammern, die laut dem Urteil des Berliner Gerichts aus dem Jahre 1950 gar nicht existiert hatten! H. Lächert erhielt eine Haftstrafe von 12 Jahren, H. Braunsteiner-Ryan eine lebenslange Freiheitsstrafe. Nachdem sie 17 Jahre lang hinter Gittern dahinvegetiert hatte, wurde die alte Frau im Jahre 1996 vom damaligen nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Johannes Rau wegen ihres schlechten Gesundheitszustandes begnadigt, sie starb drei Jahre später .
So wurde, und wird, im „freisten Staat der deutschen Geschichte“ Recht gesprochen!
g) Der Prozess gegen Hubert Gomerski und Johann Klier in Frankfurt a. M. (1950)
Nur wenige Monate nach dem Prozess gegen Erich Bauer in Berlin fand in Frankfurt a. M. ein Verfahren gegen die früheren SS-Unterscharführer Hubert Gomerski und Johann Klier statt.
Neben den bereits beim Bauer-Prozess aufgetretenen Zeugen „R.“ (E. Raab) und „L.“ (S. Lerer) traten weitere sechs ehemalige Sobibor-Häftlinge in den Zeugenstand.
Gomerski wurde am 25. August 1950 wegen Mordes in einer unbestimmten Anzahl von Fällen zu lebenslanger Haft verurteilt ; 1972 wurde er begnadigt . Johann Klier wurde freigesprochen, weil sich die Zeugen günstig über ihn geäussert hatten . Das Frankfurter Gericht stufte die Tatsache, dass Klier in Sobibor Dienst getan hatte, also nicht automatisch als Verurteilungsgrund ein und unterschied sich bei all seiner sonstigen Willkür in diesem einen Punkt positiv von der heutigen BRD-Justiz, die den 89-jährigen John Demjanjuk nicht wegen irgendwelcher konkreter Verbrechen, sondern einzig und allein wegen seines (tatsächlichen oder angeblichen) Dienstes als Wachmann in Sobibor verfolgt.
Das Verfahren wurde durch eine massive Kampagne der gleichgeschalteten Medien flankiert – eine Praxis, die später bei allen grossen NS-Prozessen zur Anwendung kam. Unter dem Titel “Sobibor – Mordfabrik hinter Stacheldraht“ berichtete die Frankfurter Rundschau am 24. August 1950:
„In der Verhandlng wurden protokollierte Aussagen einiger Überlebender verlesen, die nach Nordamerika ausgewandert waren. Hersch Cuckirmann, desen Frau und drei Kinder in Sobibor vergast wurden, berichtete von einem Transport von 1.600 jüdischen Häftlingen, die aus dem KZ Maidanek kamen. Die Gaskammern seien damals nicht in Ordnung gewesen, und die ausgehungerten und gebrechlichen Häftlinge hätten drei Tage auf die Vergasung warten müssen. Fast die Hälfte von ihnen sei aber vorher totgeschlagen worden. Gomerski habe dazu eine Wasserkanne benutzt, der SS-Oberscharführer Wagner einen stählernen Wasserschlauch. Dagegen habe sich Klier nicht unmenschlich gezeigt. […]
Die Zeugin Zelda Metz war dabei, als Häftlinge in einem Dorf Wasser holen mussten. Einige Häftlinge töteten auf dem Weg den ukrainischen Wachmann und flüchteten; die anderen wurden erschossen, und Gomerski beteiligte sich an der Exekution. Von dieser Zeugin erfuhr man, dass mitunter an einem Tag über 5.000 Leute eingeliefert und vergast wurden. Vorher mussten sie in Briefen an ihre Angehörigen schreiben, dass es ihnen gut ginge. Auch die jüdischen Arbeiter, die im Vernichtungslager 3 beschäftigt waren, fanden den Tod.
‚Sobibor war eine Fabrik zum Morden’, führte der Zeuge Kurt Thomas aus. […] Gomerski habe sich nicht nur an der Hinrichtung von 71 Juden, die wegen Fluchtverdachts erschossen wurden, sondern auch an der Exekution von 100 jungen jüdischen Häftlingen beteiligt, die man durch Kopfschüsse tötete. Manchmal hätten sich Gomerski und der SS-Oberscharführer Wagner damit vergnügt, Säuglinge als Schleuderbälle zu benutzen, um festzustellen, wer den weitesten Wurf machen könne. Beim Holzfällen hätten sie Häftlinge auf Bäume klettern lassen. Sie mussten dann im Wipfel ein Seil anbringen und wurden mit dem Baum in die Tiefe gerissen. Wer durch den Sturz nicht getötet wurde, erhielt mit gebrochenen Gliedern den Fangschuss.
Der Zeuge Chaim Engel gab an, dass sich Gomerski rühmte, mit nur zwölf Schlägen einen Häftling getötet zu haben, und Frau Engel-Weinberg, die einzige holländische Jüdin, die Sobibor überlebte, bestätigte, dass sich Gomerski im Lager 3 immer an den Vergasungen und Erschiessungen beteiligte.“
Dies alles war natürlich nichts weiter als Greuelpropaganda der grobschlächtigsten Art, doch gab es in diesem Artikel eine Passage, die einen aufmerksamen Leser stutzig machen musste, nämlich die Aussage der Zelda Metz, wonach die Häftlinge „in einem Dorf Wasser holen mussten“, wobei „einige Häftlinge auf dem Weg den ukrainischen Wachmann (nicht: „einen ukrainischen Wachmann“) töteten“. Wäre Sobibor wirklich ein Inferno gewesen, wo die Gefangenen Tag für Tag unaussprechliche Greuel miterleben mussten und den sicheren Tod vor Augen hatten, wäre die SS schwerlich das Risiko eingegangen, einige Häftlinge zum Wasserholen in ein Dorf zu schicken und von einem einzigen Ukrainer bewachen zu lassen, weil in diesem Fall jederzeit mit verzweifelten Reaktionen der Häftlinge zu rechnen gewesen wäre. Dergleichen war nur möglich, wenn die Lagerführung die Gefahr eines Fluchtversuchs gering einschätzte – weil die Häftlinge keinen zwingenden Grund hatten, ihr Leben bei einem solchen aufs Spiel zu setzen.
h) Die Urteilsbegründung gegen H. Gomerski
Da der Prozess gegen Gomerski und Klier in Frankfurt demselben Strickmuster folgte wie derjenige gegen Bauer in Berlin, begnügen wir uns hier mit der Anführung dreier Passagen aus der Urteilsbegründung gegen Gomerski:
„ Aus der Aussage der Zeugin R. ergibt sich, dass der Angeklagte einen Transport von etwa 40 Personen, die aus einem anderen Lager kamen und zur Tötung bestimmt waren, selbst erschossen hat. Die Zeugin war damals in der Waffenkammer beschäftigt und bekundet, dass der Angeklagte eines Tages dorthin kam, um sich eine Pistole mit Munition zu holen. Er sagte dabei, es seien heute nur rund 40 Personen. Bald darauf hörte die Zeugin Schüsse fallen“ .
Die Zeugin E. Raab hatte also nicht behauptet, gesehen zu haben, wie Gomerski 40 Menschen mit seiner Pistole erschoss. Sie hatte lediglich ausgesagt, er habe sich eine Pistole mit Munition geholt, und bald darauf seien Schüsse gefallen. Nichtsdestoweniger verurteilte das Gericht Gomerski unter anderem, weil er „einen Transport von etwa 40 Juden mit der Pistole erschossen hat, offenbar deswegen, weil man die Gaskammer wegen der geringen Stärke dieses Transportes nicht in Betrieb setzen wollte.“
Des weiteren hielt das Schwurgericht in seinem Urteil fest:
„In den folgenden Fällen sieht das Schwurgericht eine Beteiligung [des Angeklagten Gomerski] an der Tötung von Arbeitshäftlingen als erwiesen an:[…] Den Häftling Stark, der die Schweine versorgen musste, die im Lager gehalten wurden, schlugen der Angeklagte und Frenzel, als ein Schwein eingegangen war, derart, dass Stark schliesslich in seiner Verzweiflung aus dem gerade offen stehenden Lagertor hinauslief. Darauf liefen der Angeklagte und Frenzel ihm nach und schossen mehrmals auf ihn. In schwerverletztem Zustand – der Leib war dermassen zerschossen, dass die Eingeweide heraustraten – wurde Stark ins Lager zurückgebracht und von den Angeklagten den anderen Häftlingen, die zu diesem Zweck zusammengerufen worden waren, vorgeführt. Diese Vorgänge bekunden übereinstimmend die Zeugen L. und R. Letztere bekundet weiterhin, dass Stark dann erschossen wurde.“
Nachdem sich der Leser von seiner Verwunderung darüber, dass das Lagertor in Sobibor manchmal „gerade offen stand“, erholt hat, greift er mit Vorteil zum Buch der Miriam Novitch und führt sich folgende Aussage der Zeugin Eda Lichtman zu Gemüte:
„Shaul Stark kümmerte sich um die Gänse, er fütterte sie und wog sie täglich. Einmal wurde eine Gans krank und starb. Frenzel, Bredow, Wagner und Weiss peitschten Stark zu Tode. Die letzten Worte des Mannes waren: ‚Rächt mich, Kameraden, rächt mich.’“
Hütete der Häftling Stark nun die Schweine oder die Gänse? Von wem wurde er geprügelt, nachdem ein Schwein bzw. eine Gans eingegangen war – von Gomerski und Frenzel, wie das Landgericht Frankfurt unter Berufung auf die glaubhaften und vereidigten Zeugen Esther Raab und Samuel Lerer festhielt, oder von Frenzel, Bredow, Wagner und Weiss, wie Eda Lichtman beteuert? Erfolgte sein Tod durch die Kugel (E. Raab) oder durch die Peitsche (E. Lichtman)?
Die schier unfassbare Einfalt der Frankfurter Richter zeigt unter anderem folgende Passage aus dem von ihnen gefällten Urteil:
„Der Angeklagte bestreitet, jemals einen Menschen erschossen oder erschlagen zu haben.[…] Auf Grund der Einlassungen der in der Hauptverhandlung vernommenen Zeugen und der Vernehmungen und Niederschriften der nicht erreichbaren Zeugen, die in der Hauptverhandlung verlesen worden sind, sieht das Schwurgericht die Einlassung des Angeklagten als widerlegt an. […] Die Zeugen haben ihre Aussagen, soweit sie in der Hauptverhandlung vernommen worden sind, mit dem Eid bekräftigt. Bereits im Ermittlungsverfahren hatten die Zeugen unabhängig voneinander Aussagen gemacht, die sich mit den jetzigen Aussagen im wesentlichen decken.“
Auf den Gedanken, die Zeugen, die selbstverständlich in ständigem Kontakt miteinander standen, könnten ihre Aussagen untereinander abgesprochen haben, kamen diese erlauchten Juristen offenbar nicht!
Adalbert Rückerl, NS-Vernichtungslager im Spiegel deutscher Strafprozesse, dtv. Frankfurt 1979, S. 7 ff.
A. a.O., S. 3.
„Wagner, Spiess, Neumann, Rose, Greischutz, Gomelski, Weiss, Getzinger, Beckmann, Müller“ (Schreibweise der Namen unverändert übernommen). N. Blumental (Hg.), Dokumenty i materialy, a.a.O., S. 208.
„Szpic, Wagner, Frenkel, Niemand, Rost, Greischutz, Gomerski, Getzinger, Konrad, Gebrüder Wolf, Vetland, Michel, Veis, Bauer, Sztojbel, Richter“ (Schreibweise der Namen unverändert übernommen).N. Blumental (Hg.), Dokumenty i materialy, a.a.O., S. 209.
Shaindy Perl, Tell the World. The Story of the Sobibor Revolt, Eastern Book Press, Monsey (New York) 2004, S. 221.
http:/de.wikipedia.org/wiki/Sobibor-Prozess. J. Schelvis bestätigt auf S. 272, dass Bauers Festnahme im Jahre 1949 erfolgte. Auf S. 283 behauptet er hingegen, Bauer sei bereits 1946 verhaftet worden (Vernietigingskamp Sobibor, a.a.O.) Wir gehen davon aus, dass erstere und nicht letztere Angabe den Fakten entspricht.
Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 25. August 1950, 52 Ks 3/50.
Landgericht Berlin, a.a.O., S. 4.
J. Schelvis, Vernietigingskamp Soibor, a.a.O., S. 293.
Landgericht Berlin, a.a.O., S. 5, 6.