Kapitel 17
Die nationalsozialistische Judenpolitik
a) Von der Auswanderung zur „territorialen Endlösung“
Die wahre Funktion von Sobibor, Belzec und Treblinka ist vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Judenpolitik zu sehen, deren unverrückbares Ziel von Anfang an die Entfernung der Juden aus dem deutschen Machtbereich mittels Emigration oder Aussiedlung, zu keinem Zeitpunkt jedoch ihre physische Ausrottung gewesen war.
Bereits sieben Monate nach Adolf Hitlers Machtübernahme, am 28. August 1933, schloss das Wirtschaftsministerium des Reichs mit der Jüdischen Agentur für Palästina das sogenannte „Haavara-Abkommen“, einen Wirtschaftsvertrag, der die Grundlage für die Auswanderung von rund 52.000 deutschen Juden nach Palästina bis zum Jahre 1942 bilden sollte . Damit war das Leitmotiv der NS-Judenpolitik vorgegeben.
Am 11. Februar 1939 wurde in Berlin eine “Reichszentrale für jüdische Auswanderung” gegründet, der die Aufgabe oblag, “alle Massnahmen zur Vorbereitung einer verstärkten Auswanderung der Juden zu treffen”. Mit der Leitung dieser Zentrale wurde Reinhard Heydrich beauftragt . Nach der Gründung des “Protektorats Böhmen und Mähren” erhielt der SS-Hauptsturmführer Adolf Eichmann von Heydrich den Befehl, in Prag eine “Zentralstelle für jüdische Auswanderung” zu schaffen .
Am 25. November 1939 wurde in einem Memorandum mit dem Titel „Die Frage der Behandlung der Bevölkerung der ehemaligen polnischen Gebiete nach rassenpolitischen Gesichtspunkten“ vorgeschlagen, „ca. 800.000 Juden aus dem Reich (Altreich, Ostmark, Sudetengau und Protektorat)“ sowie weitere 530.000 Juden aus den dem Reich angegliederten, ehemals westpolnischen Gebieten ins Generalgouvermenemt abzuschieben . Allerdings wurde der Plan, im Generalgouvernement ein jüdisches Reservat einzureichten, schon bald aufgegeben. Im Mai 1940 schrieb der Reichsführer SS Heinrich Himmler in einem Memorandum:
“Den Begriff Jude hoffe ich durch die Möglichkeit einer grossen Auswanderung sämtlicher Juden nach Afrika oder sonst in eine Kolonie völlig auslöschen zu sehen.” .
Im selben Memorandum verwarf Himmler „die bolschewistische Methode der physischen Ausrottung eines Volkes aus innerer Überzeugung als ungermanisch und unmöglich“ .
Am 24. Juni 1940 hielt Heydrich in einem Schreiben an Aussenminister Joachim Ribbentrop fest:
“Der Herr Generalfeldmarschall [Göring] hat mich im Jahre 1939 in seiner Eigenschaft als Beauftragter für den Vierjahresplan mit der Durchführung der jüdischen Auswanderung aus dem gesamten Reichsgebiet beauftragt. In der Folgezeit gelang es, trotz grosser Schwierigkeiten, selbst auch während des Krieges, die jüdische Auswanderung erfolgreich fortzusetzen. Seit Übernahme der Aufgabe durch meine Dienststelle am 1. Januar 1939 sind bisher über 200.000 Juden aus dem Reichsgebiet ausgewandert. Das Gesamtproblem – es handelt sich bereits um rund
3¼ Millionen Juden in den heute deutscher Hoheitsgewalt unterstehenden Gebieten – kann aber durch Auswanderung nicht mehr gelöst werden. Eine territoriale Endlösung wird also notwendig.”
Als Folge dieses Schreibens entwarf das Aussenministerium den sogenannten Madagaskar-Plan.
Am 3. Juli 1940 verfasste Franz Rademacher, Leiter der jüdischen Abteilung im Aussenministerium, einen Bericht mit dem Titel “Die Judenfrage im Friedensvertrage”, die mit folgender Erklärung beginnt:
„Der bevorstehende Sieg gibt Deutschland die Möglichkeit und meines Erachtens auch die Pflicht, die Judenfrage in Europa zu lösen. Die wünschenswerte Lösung ist: Alle Juden aus Europa.“
Rademacher erläuterte, bei dem – als unmittelbar bevorstehend betrachteten – Friedensvertrag mit Frankreich werde letzteres die Insel Madagaskar als Mandatsgebiet abtreten, in das alle europäischen Juden deportiert würden und das einen autonomen Staat unter Überwachung Deutschlands bilden werde.
Das Projekt wurde von Ribbentrop gutgeheissen und dem Reichssicherheitshauptamt überwiesen, welchem die technischen Vorbereitungen zur Umsiedlung der Juden auf die ostafrikanische Insel sowie die Überwachung der evakuierten Juden obliegen sollte .
Am 12. Juli 1940 hielt Hans Frank, Generalgouverneur Polens, in einer Rede fest, er hoffe
„die ganze Judensippschaft im Deutschen Reich, im Generalgouvernement und im Protektorat in denkbar kürzester Zeit nach Friedensschluss in eine afrikanische oder amerikanische Kolonie zu deportieren. Man denkt an Madagaskar, das zu diesem Zweck von Frankreich abgetreten werden soll.“ .
c) Vom Madagaskar-Plan zur Aussiedlung der Juden in die Ostgebiete
In den folgenden Monaten ergaben sich durch den Krieg und die seit dem Beginn des Russlandfeldzugs realistisch gewordene Aussicht auf grosse territoriale Gewinne neue Perspektiven, die zu einem Kurswechsel in der NS-Judenpolitik führten. An die Stelle der “Endlösung” mittels Zwangsumsiedlung nach Madagaskar trat nun eine “territoriale Endlösung” durch Deportation der europäischen Juden in die von den Deutschen eroberten Ostgebiete. Dieser Kurswechsel wurde am 22. August 1941 vom SS-Sturmbannführer Carltheo Zeitschel, einem Berater an der deutschen Botschaft in Paris, eingeläutet, der in einer Note zu Händen von Botschafter Otto Abetz schrieb:
“Die seit Jahren spukende und auch z.Zt. von Admiral Darlan vor einigen Monaten neuerdings ventilierte Idee, alle Juden Europas nach Madagaskar zu transportieren, ist zwar an sich nicht schlecht, dürfte aber unmittelbar nach dem Kriege auf unüberwindliche Transportschwierigkeiten stossen, da die durch den Krieg stark dezimierte Welttonnage sicher zu anderen Dingen wichtiger gebraucht wird, als grosse Mengen von Juden auf den Weltmeeren spazieren zu fahren. Ganz abgesehen davon, dass ein Transport von nahezu 10 Millionen, selbst wenn zahlreiche Schiffe zur Verfügung stünden, jahrelang dauern würde. Ich schlage daher vor, bei der nächsten Gelegenheit diese Frage dem Reichsaussenministerium vorzutragen und zu bitten, in dem Sinne einer solchen Regelung sich mit dem bereits ernannten, zukünftigen Minister für die Ostgebiete, Reichsleiter Rosenberg, und dem Reichsführer-SS zusammenzusetzen und die Angelegenheit in dem von mir vorgeschlagenen Sinne zu prüfen. Das Transportproblem der Juden in die Ostgebiete würde selbst während des Krieges durchzuführen sein und nach dem Kriege nicht auf unüberwindliche Schwierigkeiten stossen, zumal die gesamten Juden im Generalgouvernement die Strecke in das neue abgegrenzte Territorium ja mit ihren Fahrzeugen auf den Landstrassen zurücklegen könnten.“
Der Plan zur Abschiebung der Juden in die Ostgebiete war bereits früher mehrfach erwogen worden. Am 2. April 1941, also noch vor Beginn des Ostfeldzugs, hatte Reichsminister Rosenberg mit dem Gedanken geliebäugelt,
„das moskowitische Russland als Abschubgebiet für unerwünschte Bevölkerungselemente in grösserem Ausmasse zu benutzen» .
Am 17. Juli 1941 hielt Generalgouverneur Hans Frank in seinem Diensttagebuch fest, er wünsche
“keine weitere Ghettobildung mehr, da nach einer ausdrücklichen Erklärung des Führers vom 19. Juni d. J. die Juden in absehbarer Zeit aus dem Generalgouvernement entfernt würden und das Generalgouvernement dann nur noch gewissermassen Durchgangslager sein solle” .
Man beachte den Ausdruck “Durchgangslager”!
Am 28. September 1941 übermittelte Himmler dem Gauleiter des Warthelands, Arthur Greiser, einen Befehl des Führers, dem zufolge die Juden im Altreich und dem Protektorat so rasch wie möglich nach Osten abzuschieben seien. Himmler selbst schlug vor, die betreffenden Juden “zunächst einmal als erste Stufe in die vor zwei Jahren neu zum Reich gekommenen Ostgebiete zu transportieren, um sie im nächsten Frühjahr [1942] noch weiter nach dem Osten zu deportieren”. Er regte an, “in das Litzmannstädter Ghetto [...] rund 60.000 Juden des Altreichs und des Protektorats für den Winter zu verbringen” .
Am 10. Oktober 1941 erklärte Heydrich in Prag bei einer Sitzung zur „Lösung von Judenfragen“, zwischen dem 15. Oktober und dem 15. November sollten 50.000 Juden aus dem Protektorat nach Minsk und Riga abgeschoben werden, wo sie „in die Lager für kommunistische Häftlinge im Operationsgebiet“ eingeliefert werden könnten . Da Heydrich einen solchen Entschluss nicht ohne Billigung Hitlers fällen konnte, bedeutet dies, dass letzterer Zeitschels Vorschlag zur Umsiedlung der Juden in die Ostgebiete abgesegnet hatte. Am 23. Oktober 1941 untersagte Himmler mit sofortiger Wirkung die jüdische Auswanderung , und am Tage danach wurde die Evakuierung von 50.000 westlichen Juden nach Osten angeordnet. Am 24. Oktober erliess Kurt Daluege, Chef der Ordnungspolizei, ein Dekret zum Thema „Evakuierungen von Juden aus dem Altreich und dem Protektorat, in dem es hiess:
„In der Zeit vom 1. November – 4. Dezember 1941 werden durch die Sicherheitspolizei aus dem Altreich, der Ostmark und dem Protektorat Böhmen und Mähren 50.000 Juden nach dem Osten in die Gegend um Riga und Minsk abgeschoben. Die Aussiedlungen erfolgen in Transportzügen der Reichsbahn zu je 1000 Personen. Die Transportzüge werden in Berlin, Hamburg, Hannover, Dortmund, Münster, Düsseldorf, Köln, Frankfurt/M., Kassel, Stuttgart, Nürnberg, München, Wien, Breslau, Prag und Brünn zusammengestellt.“
Der neue Kurs der NS-Judenpolitik wurde den höheren Parteichargen bei der zu diesem Zweck einberufenen Wannsee-Konferenz offiziell bekanntgegeben, die ursprünglich für den 9. Dezember 1941 geplant, doch dann auf den 20. Januar 1942 verschoben worden war. Offiziell wurde der Madagaskarplan am 10. Februar 1942 aufgegeben. In einem ein auf diesen Tag datierten Schreiben an den Gesandten Bielfeld vom Aussenministerium erläuterte Franz Rademacher die Gründe für diesen Schritt:
„Im August 1940 übergab ich Ihnen für Ihre Akten den von meinem Referat entworfenen Plan zur Endlösung der Judenfrage, wozu die Insel Madagaskar von Frankreich im Friedensvertrag gefordert, die praktische Durchführung der Aufgabe aber dem Reichssicherheitshauptamt übertragen werden sollte. Gemäss diesem Plane ist Gruppenführer
Heydrich vom Führer beauftragt worden, die Lösung der Judenfrage in Europa durchzuführen. Der Krieg gegen die Sowjetunion hat inzwischen die Möglichkeit gegeben, andere Territorien für die Endlösung zur Verfügung zu stellen. Demgemäss hat der Führer entschieden, dass die Juden nicht nach Madagaskar, sondern nach dem Osten abgeschoben werden. Madagaskar braucht somit nicht mehr für die Endlösung vorgesehen zu werden.“
Somit war die Endlösung nach wie vor territorialer Natur und bestand in der Abschiebung der Juden in den von Deutschland beherrschten Gebieten nach Osten.
Von kapitaler Bedeutung ist ein aus dem März oder April 1942 stammender Aktenvermerk von Hans Lammers, dem Chef der Reichskanzlei, laut dem Hitler diesem mitgeteilt hatte, “das er die Lösung der Judenfrage bis nach dem Krieg zurückgestellt sehen wolle” .
Am 26. Juni 1942 schrieb der Chef der Sicherheitspolizei und des SD in einem Bericht folgendes:
„Die von der Sicherheitspolizei und dem SD getroffenen Massnahmen haben auch in Weissruthenien auf dem Gebiet der Judenfrage grundlegenden Wandel zu schaffen. Um die Juden unabhängig von später noch zu treffenden Massnahmen zunächst unter eine wirksame Kontrolle zu bringen, wurden Juden-Ältestenräte eingesetzt, die der Sicherheitspolizei und dem SD für die Haltung ihrer Rassengenossen verantwortlich sind. Darüber hinaus wurde mit der Registrierung der Juden und ihrem Zusammenschluss in Ghettos begonnen. Schliesslich sind die Juden durch eine auf Brust und Rücken zu tragendes gelbes Abzeichen nach Art des im Reichsgebiet eingeführten Judensterns gekennzeichnet worden. Um das Arbeitspotential der Juden auszuwerten, werden sie allgemein zum geschlossenen Arbeitseinsatz und zu Aufräumungsarbeiten herangezogen. Mit diesen Massnahmen sind die Grundlagen für die später beabsichtigte Endlösung der europäischen Judenfrage auch für das weissruthenische Gebiet geschaffen worden.“
Die vorhandenen Eisenbahndokumente ermöglichen es uns, einen Teil des Gesamtbilds der direkt in die Ostgebiete geleiteten Judentransporte zu konstruieren. Es sind 66 Transporte bekannt, mit denen insgesamt 56.221 Juden in die Ostgebiete gelangten . Von ihnen stammten 16.057 aus dem Altreich, 11.000 aus dem Protektorat und 29.164 aus Wien. Die Bestimmungsorte waren Baranovici, Maly Trostinec und Minsk (Weissrussland), Kaunas (Litauen), Riga (Lettland) sowie Raasiku (Estland).
Neben diesen aus dem Altreich, Österreich und dem Protektorat direkt in die Ostgebiete umgesiedelten Juden gab es eine um das Vielfache grössere Zahl, die zunächst, als Zwischenetappe, ins Generalgouvernement kam. Hierauf gehen wir im folgenden Artikel näher ein; zunächst aber eine Bilanz des bisher Gesagten.
d) Bilanz
Die zitierten Dokumente, die nur einen Bruchteil der vorhandenen ausmachen, lassen nicht den geringsten Zweifel daran aufkommen, dass die von den Nationalsozialisten angestrebten „Endlösung der Judenfrage“ territorialer Natur war. Nachdem durch die Gebietsgewinne des Deutschen Reichs in der Anfangsphase des Zweiten Weltkriegs eine grosse Zahl zusätzlicher Juden unter deutsche Kontrolle geraten war, liess sich das Problem nicht mehr durch individuelle Auswanderung lösen. Zunächst wurde erwogen, die Juden nach Madagaskar abzuschieben, doch weil sich dieser Plan aus praktischen Gründen nicht durchführen liess, trat an seine Stelle ein Programm zu ihrer Umsiedlung in die eroberten Ostgebiete, wobei das Generalgouvernement für die meisten Umsiedler “gewissermassen Durchgangslager sein sollte” (H. Frank).
R. Vogel, Ein Stempel hat gefehlt. Dokumente zur Emigration deutscher Juden. Droemer Knaur, München/Zürich 1977, S. 46 und 107-109.
A.G. Adler, Der Kampf gegen die “Endlösung der Judenfrage”, Bundeszentrale für Heimatdienst, Bonn 1958, S. 8.
Die Frage der Behandlung der Bevölkerung der ehemaligen polnischen Gebietes nach rassenpolitischen Gesichtpunkten, Nürnberger Dokument PS-660, S. 25.
«Einige Gedanken über die Behandlung der Fremdvölkischen im Osten», in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 5. Jg., 2. Heft, April 1957, S. 197.
Nürnberger Dokument T-173.
Eine ausführliche Gesamtstudie zu dieser Frage ist Magnus Brechtkens “Madagaskar für die Juden”: Antisemitische Idee und politische Praxis 1995-1945, R. Oldenbourg Verlag, München, 1998.
Nürnberger Dokument NG-2586-J.
Nürnberger Dokument PS-2233. IMG [Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem internationalen Militärgerichtshof. Nürnberg, 1947-1949], Bd XXIX, S. 378.
Zitiert nach Martin Broszat. „Hitler und die Genesis der ‚Endlösung’. Aus Anlass der Thesen David Irvings“, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 25. Jahrgang, Heft 4, Oktober 1977, S. 748/749.
Brief Himmlers an Greiser vom 18 September 1941. Bundesarchiv Koblenz, NS 19/2655, S. 3.
Nürnberger Dokument T-394: „Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei hat angeordnet, dass die Auswanderung von Juden mit sofortiger Wirkung zu verhindern ist.“
Nürnberger Dokument PS-4025.
“Meldungen aus den besetzten Ostgebieten Nr. 9”, Berlin, den 26. Juni 1942. Rossiskij Gosudarstvenny Vojenny Archiv (Staatliches Russisches Kriegsarchiv), 500-1-755, S. 190.