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13. Mai 2009


"Die Deutschen haben Sobibor betrieben,
nicht John Demjanjuk"


Götz Aly: Tatherrschaft der Deutschen nicht relativieren: Im Gespräch mit Christian Schütte

Der Historiker Götz Aly ist der Auffassung, der Prozeß gegen den
mutmaßlichen NS-Kriegsverbrecher Demjanjuk werde dabei helfen, die Frage der
europäischen Kollaboration an den Untaten der Deutschen im Zweiten Weltkrieg
zu thematisieren. Es gebe Tausende Fälle, in denen Europäer zu Mittätern
wurden. Damit solle jedoch die Oberverantwortung der deutschen Täter nicht
relativiert werden, betonte Aly.

Christian Schütte: Von einem Wettlauf gegen die Zeit spricht der Zentralrat
der Juden in Deutschland. Dem 89-Jährigen mutmaßlichen Kriegsverbrecher John Demjanjuk, gestern aus den USA nach Deutschland überstellt, soll möglichst
bald der Prozeß gemacht werden. Generalsekretär Stefan Kramer:

Stefan Kramer: Es geht hier nicht um Rache, sondern es geht um Gerechtigkeit. Insofern ist es gut und richtig, daß er nach Deutschland ausgeliefert wird und hier vor Gericht gestellt wird. Ich bin nicht so naiv zu glauben, daß er auch nur einen Tag im Gefängnis verbringen wird. Ich gehe davon aus, daß es hoffentlich einen Prozeß geben wird. Auch das steht noch in Frage, weil vorangegangene Verfahren in der Regel immer ausgesetzt worden sind, weil allein das Alter schon ausgereicht hat, um eine
Verfahrensunfähigkeit zu präjudizieren.

Schütte: Stefan Kramer, Generalsekretär des Zentralrats der Juden in
Deutschland. - Am Telefon begrüße ich nun den Historiker und Publizisten


Götz Aly. Guten Morgen!

Götz Aly: Guten Morgen!

Schütte: Herr Aly, sind Sie da mit Blick auf die Geschichte ähnlich
skeptisch, ob es überhaupt zu einem Verfahren gegen Demjanjuk kommt?

Aly: Die Schwierigkeit ist ja ganz eindeutig das Alter. Gegen einen
89-jährigen Mann ist schwer ein Prozeß zu führen, und zwar einfach aus dem
Grund - das sagen nun mal unsere Gesetze -, er muß in der Lage sein, den
Prozeß zu verstehen, den Gang durchstehen, sich selber verteidigen können,
und das ist eine offene Frage. Die wird nicht in der Öffentlichkeit
entschieden, sondern notfalls eben durch ärztliche Gutachter, und dazu wird
es sicherlich kommen.

Schütte: Wenn das Verfahren nicht begonnen oder zu Ende geführt werden kann, was wäre dann die Auslieferung überhaupt wert?

Aly: Daß die ganze Frage, die damit zusammenhängt, oder die Fragen noch mal
thematisiert werden und daß natürlich auch bei einem alten Mann diese Dinge
bis zum Schluß aufgeklärt werden. Und der Fall Demjanjuk - unterstellen wir
mal, er sei damals tatsächlich in Sobibor als Wachmann gewesen - zeigt
etwas, was man so in NS-Prozessen noch selten gesehen hat in Deutschland,
nämlich die Frage der europäischen Beteiligung der Kollaboration wird hier
thematisiert und das ist schwierig. Das zu handhaben, ist auch für die
deutsche Öffentlichkeit und übrigens auch die internationale Öffentlichkeit
eine Herausforderung, denn es geht darum, daß man feststellt, daß der
Holocaust - und das tun heute sehr viele - nicht nur ein Tiefpunkt der
deutschen Geschichte ist, der allertiefste, sondern eben auch der
europäischen Geschichte. Und man muß das formulieren und formulieren können,
beispielsweise am Fall Demjanjuk, aber es gibt Tausende solcher Fälle, ohne
die deutsche Schuld zu relativieren, die Oberverantwortung, die
Tatherrschaft der Deutschen. Die Deutschen haben Sobibor betrieben, nicht
John Demjanjuk, und die Deutschen hätten das jeden Tag beenden können, nicht
Herr Demjanjuk.

Schütte: Wie kann man das angemessen behandeln? Wie kann man die
Mitverantwortung anderer europäischer, ich sage mal Staaten oder Bürger
ansprechen, verfolgen, ohne sich zugleich ein bißchen aus der deutschen
Verantwortung herauszustehlen?

Aly: Beispielsweise durch solche Prozesse, aber es geschieht vor allem,
indem es in den anderen europäischen Staaten thematisiert wird - denken Sie
an die großen Leistungen des französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac
in dieser Hinsicht, der immer wieder und mehrfach bei öffentlichen
Gelegenheiten gesagt hat, wir als Franzosen, als französischer Staat, wir
waren an diesem Verbrechen beteiligt. In Rumänien wird in dieser Form heute
darüber geredet, es gibt polnische Historiker und Publizisten, die das tun,
die die Mitverantwortung auch ihrer Nation, von Polizeikräften, von
Institutionen in Polen während des Krieges thematisieren. Das gibt es in den
Niederlanden und ich glaube, vor diesem Hintergrund kann man darüber
nüchtern reden. Der Holocaust ist auch zu verstehen als europäisches
Ereignis, als Mittäterschaft. Sie müssen sich vorstellen, daß deportierte
Juden etwa von Ungarn aus bis zur slowakischen Grenze keinen Deutschen
gesehen haben, sondern nur ungarische Gendarmen und dann in den Lagern
natürlich auch oft Wachmänner, die ganz anderer Nationalität waren,
Ukrainer, Letten, Litauer. Darüber zu reden als Europa heute, das scheint
mir möglich, aber das brauchte eben auch diesen Abstand von mehr als 60
Jahren inzwischen und auch die Überwindung des Kalten Krieges. Das Jahr
1989, bis dahin waren die Verbrechen der Vergangenheit, des Zweiten
Weltkrieges, diese deutschen Großverbrechen und die Folgen davon, zu der
auch die Teilung Europas gehörte, sozusagen eingeeist im Kalten Krieg und es
findet dieser Prozeß erst seit 20 Jahren statt.

Schütte: Herr Aly, wie weit ist denn die deutsche Forschung in diesem Punkt?
Was ist der Stand der Debatte? Wie weit ist man da?

Aly: Intern ist man da, glaube ich, ganz schön weit. Sie können jetzt
Dissertationen lesen, daß zum Beispiel die litauischen Juden eigentlich bis
zum Tod in den Kleinstädten keinen einzigen Deutschen gesehen haben. Das
ändert überhaupt nichts an der deutschen Oberverantwortung, weil die
Deutschen haben das ins Werk gesetzt, aber es ist natürlich immer mißlich,
wenn man als deutscher Historiker gewissermaßen damit anfängt, aber wir
kommen aus dieser mißlichen Lage heraus - eben deswegen, weil die Kollegen,
aber auch die Politiker, die Journalisten in den anderen europäischen
Ländern an diesen Fragen interessiert sind und die dortigen Öffentlichkeiten
damit konfrontieren, auch weil Organisationen wie etwa die Claims-Konferenz
auch diese anderen europäischen Länder dazu veranlaßt hat nachzuforschen, wo
ist denn das jüdische Eigentum geblieben nach der Deportation, nämlich fast
immer in den Ländern, in den Staaten, aus denen die Juden deportiert wurden.
Also ich glaube, in den nächsten zehn Jahren wird über dieses Thema noch
sehr viel geredet werden, in Europa und auch in einer verständigen klaren
Weise, und der Prozeß gegen Demjanjuk, sollte er auch scheitern, die
Anklage, die Thematisierung wird dabei weiterhelfen.

Schütte: Der Historiker und Publizist Götz Aly im Gespräch mit dem
Deutschlandfunk. Vielen Dank.

 

 

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