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Die Ermordung der ukrainischen Juden:
"Der vergessene Holocaust"

Buchvorstellung mit dem Autor Patrick Desbois in Heidelberg...
Von Ramona Ambs

"Tagelang bewegte sich noch die Erde, die man auf die Massengräber geworfen
hatte, nachdem man die Juden lebendig hineingestoßen und dann erschossen
hatte. Pro Jude ein Schubs - wer davon nicht starb, wurde eben halbtot unter
den Leichen und der Erde begraben. Es kam vor, das noch Tage nach dem
Zuschütten der Gräber eine Hand aus der Erde gestreckt wurde".

Solche Beschreibungen sind es, die man in Patrick Desbois Buch findet, das der
Autor am Dienstag im DAI vorstellte. Er kam auf Einladung von Gert
Weisskirchen (MdB) nach Heidelberg in einen leider mit gerade mal zwanzig
Personen spärlich besetzten Zuschauerraum. Mit ihm auf dem Podium saßen der
Frankfurter Historiker Arno Lustiger, der für das Buch ein Vorwort verfaßt
hat und Stefan Kramer, Generalsekretär des Zentralrats der Juden in
Deutschland.

Patrick Desbois, Arno Lustiger, Stefan J. Kramer und Gert Weisskirchen
Desbois - der kein Historiker, sondern französischer Priester ist- erzählte
in englischer Sprache von den Interviews, die er vor Ort geführt hat. Dabei
helfe ihm die Tatsache, daß er als Priester komme und nicht etwa als
Wissenschaftler oder Reporter. Denn seine Glaubensbrüder vor Ort helfen ihm
Zeugen zu finden, die von den damaligen Geschehnissen erzählen können.

"Einem Priester sagt man nicht Nein" kommentiert er seine Position vor Ort.
Dabei spricht er mit Menschen, die diese Zeit als Kinder oder Jugendliche
miterlebt haben, meist gemeinsam in Gruppen, damit die eigene Erinnerung mit
den Erinnerungen der anderen abgeglichen wird.

Stets hält er sich mit einer moralischen Verurteilung der Zeugen zurück. Die
Zeugen selbst wurden als Kinder von den deutschen Einsatztruppen zu
vielerlei Hilfsdiensten herangezogen. Einige erzählten davon, daß sie auf
den Leichen umhergehen mussten, damit noch mehr Juden in das Massengrab
passen würden, andere erzählten, daß sie die Kleider zusammenlegen mussten,
die die Juden vor ihrer Ermordung ausziehen mussten. Desbois berichtet von
rund hundert verschiedenen Hilfsdiensten zu denen die ukrainischen Kinder
herangezogen wurden.

Auf Nachfrage aus dem Publikum, ob die Zeugen heute so etwas wie Scham für
die damaligen Vorgänge empfänden, konnte Desbois keine eindeutige Antwort
geben. Er erzählte, daß es für einige einfach eine traumatische Erfahrung
war, sprach aber auch davon, daß andere immer noch nur kalt davon sprachen,
daß sie nach der Erschießung der Juden die guten Kleidungsstücke der Opfer
behalten durften.

Am meisten debattiert wurde an diesem Abend jedoch die Frage, weshalb der
Holocaust im Osten so ganz anders geschah als im Westen und weshalb dieser
Umstand bisher von den Historikern so stark vernachlässigt wurde. Zu Beginn
seines Buches zitiert Desbois die Zeugin Kazenko: "Bei uns erschießen die
Nazis die Juden, im Westen bringen sie sie in Lagern um." In der Tat wurde
in der Ukraine einfach von Dorf zu Dorf weitergezogen und die Juden wurden
mitten in den Dörfern unter Einbeziehung der Bevölkerung getötet. Ein
derartiges Vorgehen gab es in den westlichen Staaten nicht. Arno Lustiger
verwies darauf, daß sich deutsche Historiker meist nur mit den Tätern
beschäftigten und sich häufig ausschließlich auf deutsche Akten als Quellen
bezogen. Eine Befragung einfacher Zuschauer - so wie Desbois es tat -
unterbleibe.

Bitter zeigte sich der sonst so ruhige und sympathische Priester über die
Vorgehensweise der deutschen Regierung und des Volksbunds der deutschen
Kriegsgräberfürsorge. Diese hatten in der Nachkriegszeit akribisch jedes
Grab von deutschen Soldaten und auch SS-Mördern im Osten suchen lassen und
Grabsteine aufgestellt, um diese würdig zu bestatten. Um die jüdischen Opfer
die verstreut und namenlos im ukrainischen Gräberland lägen, habe sich
niemand gekümmert. Er äußerte vehement sein Unverständnis darüber, daß man
Museen und Denkmäler baue, aber nicht nach den Gräbern der Juden im Osten
suche und ihnen wenigstens im nachhinein ein würdiges Begräbnis mit einem
Gedenkstein mit Namen zukommen lasse.

Stefan Kramer schlug an dieser Stelle einen Bogen zur aktuellen Situation.
"Die Juden ziehen nur Vorteile aus der Geschichte" sei ein Satz, den er
häufig zu hören bekomme. Er antwortet stets: "Auf diese Art 'Vorteil' hätten
die Juden sicher gerne verzichtet".

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http://astore.amazon.de/buchundjudenhaga/detail/3827008263Patrick Desbois:
Der vergessene Holocaust.
Die Ermordung der ukrainischen Juden. Eine Spurensuche
Aus dem Französischen von Hainer Kober. Mit einem Geleitwort von Arno
Lustiger.
Berlin Verlag 2009, 352 Seiten, Gebunden, Euro 22,90

 

 

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