Halbe, eine vergessene Schlacht

Anfang der 80er Jahre arbeitete ich in der Kongreßbibliothek , Washington, D.C., an Forschungen für meine Trilogie mit dem Titel „Lebensraum", worin über die Flucht meiner Familie im Jahr 1943 aus der Ukraine unter dem Schutz der zurückweichenden deutschen Wehrmacht berichtet wird. Dort stieß ich auf einen Artikel über die letzte große Schlacht, die zwischen der Deutschen Wehrmacht und den Russen im Zweiten Weltkrieg in der Nähe von Berlin stattfand, wie ich mich noch heute bruchstückhaft erinnere.  Ich bin da als achtjähriges Kind mitten hineingeraten.

In meiner Erinnerung sehe ich die verschiedenen Ereignisse dieses Kampfgeschehens weitgehend wie eine Diaschau. Ich war zu jung, um zu verstehen, daß, was ich damals erlebte, die Todeszuckungen dessen waren, was politisch korrekte Medien heute zum "verdienten Ende einer verabscheuungswürdigen Diktatur im Herzen Europa" verzerren.

Ich erzähle hier einfach, woran ich mich erinnere.

Von meiner einst zahlreichen Familie waren wir noch Vier, die übrig waren. In den vergangenen Jahren - lange, ehe ich geboren wurde - hatte es Hunderte von Verwandten gegeben: Tanten und Onkels, Großeltern, Vettern, Nachbarn, entfernte Verwandte von uns - alle verschwunden, verschleppt nach Sibirien, hingerichtet, in zwei sowjetischen Hungersnöten umgekommen, erfroren am Straßenrand, zurückgeblieben auf einem verzweifelten Leidensweg, um Stalins Rotem Terror zu entgehen, der mein Volk seit der kommunistischen Revolution über Jahrzehnte bedrohte.

Nun war nur noch meine Großmutter übrig, unsere Oma, meine vierjährige Schwester Wally, meine schöne Mutter, damals Anfang dreißig, und ich.

Und nein, ich mache die Sache gleich zu Anfang klar - ich bin keine jammernde Jüdin. Ich bin stolz auf meine deutsche Herkunft, in der Ukraine geboren, jetzt naturalisierte US-Amerikanerin. Meine Leute wurden im Reich Jahrhunderte hindurch „Volksdeutsche" genannt, ethnische Deutsche, die ihr Heimatland vor fünf oder sechs Generationen verlassen hatten und die jetzt zurück ins Vaterland zogen, zusammen mit der Wehrmacht, als Deutschland im Begriff war, den Krieg zu verlieren.

In dem Artikel, den ich in der Kongreßbibliothek fand, wurde die Schlacht, die ich hier beschreiben werde,  „die Schlacht um Halbe" genannt. Ich erinnere mich nicht an das Dorf Halbe selber - ich erinnere mich an zwei Orte im Bereich jener Kämpfe, kleine Dörfer, die Kausche und Greifenhain hießen. Ich habe beide Ortschaften lebhaft im Gedächtnis, allerdings nur lückenhaft.

Zunächst einmal Kausche. Wir sind dort nach einer schrecklichen Flucht von Polen aus gelandet, kurz bevor Warschau 1944 von den Sowjets eingenommen wurde. Wir versuchten verzweifelt, Berlin zu erreichen, blieben aber in jenem Dorf Kausche stecken. In den hoffnungslosen letzten Kriegswochen überfluteten Flüchtlinge alles, schliefen oft in Kirchen, Schulen oder sogar draußen am Straßenrand - doch hatten wir Glück, der Bürgermeister von Kausche hatte uns einen einzelnen Raum am Ende eines Ziegenstalls angewiesen;  vielleicht war dieser Raum eine Unterkunft für Knechte und Mägde gewesen. Ein kleines, rauchiges Zimmer ... aber wir hatten wenigstens ein Dach über dem Kopf.

Wir vier teilten uns den Raum mit einer hochschwangeren Frau Weber und ihrer pausbäckigen Tochter Erika, zehn Jahre alt. Das Hauptgebäude lag gegenüber, und seitlich gab es ein drittes Gebäude, an das ich mich nur erinnere, weil ein junger deutscher Soldat, der aus irgend einem Grund, welcher seiner hysterischen Mutter, die ihm das Leben zu retten versuchte, nie erklärt wurde, später auf der Treppe von einem Russen hingerichtet wurde. Man ließ ihn tagelang auf den Stufen liegen; niemand durfte ihn anrühren.

Aber ich greife meiner Geschichte vor. Es mag heute seltsam erscheinen, aber in jenen kühlen Apriltagen 1945 glaubten wir alle noch, daß der Krieg gewonnen werden könne - und in allernächster Zeit gewonnen werde! Das war es, was Dr. Goebbels in einer weithin ausgestrahlten Radiobotschaft - wahrscheinlich seiner letzten - immer noch versprach. Zweifel wäre Ketzerei gewesen.

Frau Webers Mann war an der Ostfront; jetzt glaubte man, er sei vermißt. Er war auf Urlaub nach Hause gekommen, und nun wartete sie auf die Geburt ihres Kindes. Erika und ich hatten eine irgendwie bedingte Freundschaft geschlossen, weil Erika - für ihr Alter schon ein großes Mädchen - mich schamlos herumkommandierte, wogegen ich mich stur stellte. Ich war klein und mager, mit Erika nicht zu vergleichen. Ich bewunderte Erika und ging ihr gleichzeitig oft aus dem Weg, denn sie war mir unbehaglich. Einmal zog sie ihren Pullover hoch und zeigte, was da schon mit ihrer Brust los war - zwei winzige Knospen wie kleine Kirschen. Nichts dergleichen war auf meiner Brust zu finden, was klarerweise ein ernstlicher Nachteil für mich war.

Die nächste Erinnerung, die ich habe, ist, daß in der Ferne der Horizont plötzlich ganz feuerrot war. Ich spreche nicht von einem kümmerlichen kleinen Sonnenuntergang; es war ein Rot von einem Ende zum anderen - der allerspektakulärste Sonnenuntergang der Welt! Jemand vermutete kopfschüttelnd, daß vielleicht Berlin wieder einmal durch einen Luftangriff in Flammen gesteckt wurde.  Im Rückblick weiß ich nicht, ob, was wir da brennen sahen, Berlin war oder ob eine andere nahgelegene Stadt von den Alliierten in Fetzen gebombt wurde. Wir sahen diesen von den Feinden in Flammen gesteckten Horizont Nacht für Nacht, wieder und wieder - wochenlang!  Unvergeßlich!

Dann fing es an, in der Ferne zu grollen, und wir konnten riesige Wolken im Osten sich auftürmen sehen.  Es klang und es sah so aus, als ob ein Gewitter auf uns zu zöge. Bei diesem Anblick verkündete Frau Weber auf ihre polternde Art, daß ihre Wehen einsetzten. Sie überließ Erika der Fürsorge von Oma und ging zu Fuß dahin, wo auch immer sie hin mußte und kam nach ein paar weiteren Tagen zu Fuß zurück mit einem wimmernden Etwas, das Erika als ihre neue kleine Schwester vorstellte, deren Namen ich vergessen habe. Vielleicht hat sie nie einen Namen gehabt? Erika stolzierte angeberisch herum, was meine Eifersucht auf sie nur noch steigerte.

Wenig später spielten Erika und ich „Murmeln" - so nannten wir unser einfaches Spiel, bei dem wir Glaskügelchen am Erdboden rollen ließen -, als wir eine kleine Gruppe Zivilisten auf Fahrrädern die Straße heruntersausen sahen. Eine Frau mit zwei halbwüchsigen Jungen und mehreren kleinen Mädchen hielten bei uns an, ganz außer Atem; sie schrien uns zu, wir sollten laufen: " Die Russen kommen! Die Russen sind gleich hier!" Die Russen seien schon am Ortsrand von Kausche, und die plünderten, verbrannten, vergewaltigten und mordeten alles, was ihnen in den Weg kam!

Erika und ich standen nur da und starrten sie an. Sie schwangen sich wieder auf ihre Räder und rasten wie Besessene mit zitternden Knien davon.

Ich erinnere mich nicht, ob ich mit meiner Familie das Weite suchte oder nur zusammen mit Erika - doch erinnere ich mich ganz klar, daß wir an einen Waldrand kamen und dort bei einem Baumstamm ein toter deutscher Soldat saß, in voller Uniform, nach vorn gebeugt, in seinem Schoß den Kopf eines ebenfalls toten Kameraden, der seitwärts im Gras mit seltsam gespreizten Beinen hingestreckt lag.

Danach habe ich einen blinden Fleck in meiner Erinnerung. Vielleicht einen Tag? Vielleicht auch nur Stunden?

Dann finde ich mich wieder in unserem kleinen Zimmer am Ende des alten Ziegenstalls in Kausche. Im Zimmer drängte sich ungefähr ein Dutzend andere Leute zusammen, meist junge Frauen und halbwüchsige Mädchen, und meine Oma rang mit Frau Weber, die mit einem Messer herumfuchtelte und gespenstisch herumschrie, sie werde ihr Baby abschlachten. Oma erklärte mir später, Frau Weber sei übergeschnappt durch all das Schreckliche - und es war fürchterlich, was nun ständig in dieses Zimmer hereinbrach. Die Tür war unter Stiefeltritten aufgesprungen, und Horden von „Russen", schlitzäugig, grinsend, drangen ständig ein, griffen nach den Mädchen, packten die Frauen, faßten selbst nach der noch blutenden Frau Weber und warfen sie alle auf den Fußboden. In meiner Erinnerung waren es mehrere Dutzend „russische" Soldaten - es waren tatsächlich Mongolen in sowjetischer Uniform, die von Stalin zwangsweise eingezogen worden waren, um in Deutschland Rache zu nehmen, wie Ilya Ehrenburg, der jüdisch-sowjetische Propagandaminister in vielen Radioansprachen sie aufgefordert hatte: „Tötet! Tötet! Tötet! Keiner ist unschuldig!  Niemand!  Niemand!  Nicht die Lebenden und nicht die noch Ungeborenen!"

Massenvergewaltigung!  Reihenweise!  Unablässig!

Ich habe das nicht gesehen. Man hat es mir später gesagt, als ich alt genug war, es zu verstehen. Meine Oma hatte mich in eisernem Griff, drückte meinen Kopf gegen ihre Jacke und hielt mir so die Augen zu.  Ich erinnere mich nicht, daß sie weinte - nicht einmal schluchzen hörte ich sie. Ich habe sie als schweigend im Gedächtnis. Mit dem Gesicht gegen ihre Brüste gedrückt, konnte ich gar nichts sehen, doch sie sah es, alles, sie hat alles überlebt - und sie hat niemals wieder darüber gesprochen, was sie in jeder Nacht und in den vielen Nächten danach gesehen und erlebt hat.

Ich weiß heute - sie sah ihre Tochter, meine schöne junge Mutter, vor ihren Füßen auf dem Boden, vergewaltigt von Sowjetsoldaten, von einem nach dem anderen, die andere Mädchen, andere Frauen festhielten und ihnen unablässig Gewalt antaten - wobei immer neue Schwärme von Sowjets hereindrängten und weitermachten, wenn die vorherigen abließen.  Während dieses ganzen Wahnsinns wurde unser Gebäude noch von einer Granate getroffen, die, glaube ich, zwei Ziegen tötete. Im Raum selber gab es Schläge, die Zähne kosteten, aber keine Todesopfer. Nur Vergewaltigungen. Endloses Vergewaltigen. Reihenvergewaltigung von jungen deutschen Mädchen, jungen deutschen Frauen durch Asiaten in sowjetischer Uniform.

Meine nächste Erinnerung ist, daß ganz plötzlich unser Hof voll von deutschen Soldaten war, die kurz durch die Front gebrochen waren und versuchten, sich nach Berlin durchzukämpfen, wo sie hofften, sicher zu sein.  In meiner Erinnerung war dies der 20. April, Hitlers Geburtstag. Sicher bin ich  mir bezüglich des Datums nicht, aber ich weiß genau, daß es um den 20. April gewesen sein muß. Ich höre noch die beruhigende Stimme von Goebbels aus dem Radio.

Unsere Erretter!

Wie es vorher, seit wir die Ukraine im Herbst 1943 verlassen hatten, zahllose Male geschehen war, hatten diese deutschen Jungen und deutschen Männer sich tapfer bis zu uns durchgekämpft, auf ihre Kosten, mit großen Mühen und Opfern an Leben und Gesundheit, um uns zu erretten! Das glaubten wir damals, und ich glaube es noch heute. Meine Oma, die stoisch gefaßte, tiefreligiöse alte Frau, hing einem von diesen von ihrem deutschen Herrgott Gesandten in deutscher Uniform am Hals und weinte, weinte, weinte. Er klopfte ihr etwas täppisch den Rücken und sagte: „Omalein, wein' doch nicht! Wein' doch nicht. Bitte, wein'doch nicht - wir sind ja da!"

In jener Kongreßbibliothek in Washington, D.C, habe ich vierzig Jahre später gelesen, daß jene Truppe aus Jungen, die die russische Front durchbrochen und das Dorf Kausche kurzzeitig besetzt hatten, bis fast zum letzten Mann ermordet wurden. Sie hatten keinerlei Chance. Bei dem, was dann kam, wurden sie einfach zerrieben!

Dann plötzlich, man frage mich nicht wie, fanden wir uns auf einem deutschen Fahrzeug wieder,  das Teil einer sehr langen Kolonne fliehender Truppen war, vermischt mit Zivilisten, die sie entlang der Straße im Chaos der Flucht auflasen. Im Rückblick erscheint mir jenes Fahrzeug als Kreuzung zwischen Jeep und Lastwagen; - war es ein LKW? Wir drückten uns hinten darauf aneinander, eine Plane über unseren Köpfen, Zivilisten zumeist, vielleicht ein Dutzend, auch ein Mann mit einem ganz blutigen Turban um den Kopf. Wir Vier, Oma, Mama, Wally und ich - waren immer noch zusammen, auf dem Fahrzeug verkrochen, auf der Fahrt zum Greifenhainer Wald.

Es ging langsam voran, weil aus allen Richtungen ständig auf uns geschossen wurde. Mehrmals gingen die Geschosse direkt durch die Plane, und wir alle gingen in Deckung, als hätten wir das gelernt. Es war immer noch kalt; meine Oma hatte sich in eine Decke gewickelt, an der wir später mehrere Löcher von Splittern oder Kugeln fanden. Wundersamerweise wurde sie nicht getroffen, und wir auch nicht. Wie wir Vier unversehrt den Greifenhainer Wald überlebten,  war mehr als eine Wunder! Kaum jemand schaffte es.

Unser erster Fahrer wurde getroffen und war sofort tot. Wir mußten abspringen, wurden aber fast sofort von dem nächsten Fahrzeug aufgenommen und etwas tiefer in diesen Wald gebracht - bis auch dieser Fahrer fiel.  Nach meiner Erinnerung ist das drei- oder viermal geschehen, weil entweder der Fahrer getroffen oder das Fahrzeug durch den Beschuß unbrauchbar wurde. In kürzester Zeit war die gesamte Straße von stehengelassenen Wagen verstopft, mit toten Soldaten und Zivilisten links und rechts, Geschosse und Granaten kreuz und quer, wobei ein paar von uns noch in Militärfahrzeugen im Schneckentempo voranstolperten. Immer wieder lief ein Ruf die Kolonne entlang, von Fahrzeug zu Fahrzeug: „Panzer nach vorn! Panzer nach vorn!" Schließlich erschien in der Tat ein solches Ungeheuer auf Raupenketten, stieß festgefahrene Wagen beiseite, mahlte auf der Straße liegende Tote in dem Staub - das war der letzte noch bewegliche deutsche Panzer, den wir sahen.

Und dann das riesige Blutbad, das einen Tag und eine Nacht andauerte - so jedenfalls erklärt es der Artikel in Washington, DC.  Die restlichen Wehrmachtseinheiten wurden vollständig eingeschlossen, immer noch zusammen mit einer Handvoll Zivilisten in ihrer Mitte. Erst in den 80er Jahren habe ich in Washington, D.C., als die Stadt sich darauf vorbereitete, Ronald Reagan als Präsidenten einzuführen, über dieses Massaker gelesen. Es war das erste Mal, daß ich wirklich verstand, was sich im Greifenhainer Wald abspielte.

Irgendwie wurde ich an jenem Tag oder vielleicht auch später in der Nacht in einem irrsinnigen Kampf ums Überleben von meiner Familie getrennt - ich habe keine Erinnerung an Einzelheiten bewahren können. Nichts davon! Es ist ein leerer Fleck in meinem Gehirn. Ich habe es vollständig ausgewischt - es ist weg!

Man hat mir später gesagt, daß ich, nachdem ich einen ganzen Tag und eine Nacht im Greifenhainer Wald verschwunden gewesen war, den Weg in ein verlassenes Bauernhaus am Rande des Waldes fand, wohin meine Familie sich geflüchtet hatte. Wie ich dort hinkam, weiß ich nicht. Oma erzählte mir, ich habe eine ganze Woche lang kein Wort sprechen können. Ich habe bloß auf den Stufen vor dem Bauernhaus gesessen und den Oberkörper gewiegt.  Daran kann ich mich noch gut erinnern.

Dieses Bauernhaus war von seinen Besitzern verlassen; wir haben nie erfahren, was mit ihnen geschehen ist. Jetzt bot es eine Art Unterkunft nicht nur für uns Vier, sondern was mir in meiner Erinnerung wie fünfzig oder sechzig verwundete Soldaten vorkommt, die entweder mit letzter Kraft hineingekrochen oder von Mama und Oma hingeschleppt worden waren, als der Beschuß nachließ. Einer von ihnen war so schwer verwundet, daß er es nur bis in den Vorraum  schaffte. Diese ganze von Schrecken erfüllte Nacht hindurch, in der meine Mutter von den Sowjets immer wieder hinausgeschleppt wurde, damit sie ihre Gier an ihr stillen konnten, kümmerte sich meine Großmutter um den sterbenden Jungen im Vorraum. Einmal bat er um ein Gefäß, um sein Wasser zu lassen. Sie fand ein leeres Einmachglas, um ihm behilflich zu sein. Er machte es zweimal randvoll. In all seinen Schmerzen hielt dieser Sterbende sein Wasser derart lange, um sich nicht schämen zu müssen.  Bis zu ihrem eigenen Tod hat Oma sich damit  so herumgequält, daß sie ihn nicht einmal um seinen Namen fragte.  Irgendwo, sagte sie später, wartete noch immer eine Familie auf ihn.

Einige Wochen lang hat dieses Bauernhaus nicht nur verstümmelte und verwundete deutsche Soldaten beherbergt, sondern auch eine Gruppe schwatzender Russen, die dort eine Art von Stabskommando eingerichtet hatten. Zu der Zeit war der Krieg zuende gegangen, aber davon wußten wir nichts. Überall lagen tote Soldaten herum - im Bauernhaus selber, im Vorgarten, auf der Treppe, außerhalb des Eingangs mit dem steinernen Torbogen, der bis obenhin mit den Leichen deutscher Soldaten zugebaut war, um uns drinnen und andere draußen zu halten. Ich sehe es noch vor mir, wie ihre Arme und Köpfe heraushingen - Dutzende von Armen kreuz und quer, baumelnde Köpfe.

Die umherliegenden Leichen machten mir keine Angst - es waren einfach allzu viele von ihnen, und wir gewöhnten uns an sie. In meiner Familie hält sich die Geschichte, daß meine kleine Schwester eines Tages auf den Beinen eines toten Soldaten sitzend entdeckt wurde und ganz ernsthaft mit einer kleinen Porzellanpuppe spielte, die sie gefunden hatte. „Mein kleines Püppchen sagt Heil Hitler," sagte die Vierjährige zu einem Russen, der zufällig vorbeiging, und Oma blieb die Luft weg, aber er brach nur in ein brüllendes Gelächter aus und tätschelte Wally das Köpfchen. Es gab so viele Tote und niemanden mehr, um sie zu begraben, daß sie bis weit in den Sommer hinein liegen blieben. Ich denke an einen hinter einer Hecke, der von einem Panzer ganz plattgefahren war. Der blutige Umriß war noch wochenlang da, nachdem die Schießerei aufgehört hatte, und immer, wenn wir vorübergingen, erhob sich von ihm ein riesiger Schwarm Fliegen. Nun waren die Tage schon warm, ja heiß, und der Gestank so vieler Leichen war nahezu unerträglich.

So waren wir dort, teilten uns ein Haus von irgendwem mit etwa einem Dutzend Russen und vielen, vielen verwundeten Soldaten. Meine Mutter wurde wiederholt von irgend einem Rüpel herausgezerrt, wieder und wieder, hunderte von Malen in den kommenden Wochen und Monaten. Meine Großmutter kochte derweil für die verwundeten Deutschen und auch für die Russen. Sie hatte Hafermehl gefunden und im Keller etwas Eingemachtes;  jeden Tag brachte sie eine wäßrige Suppe zustande. Ich erinnere mich besonders an einen deutschen Soldaten - einen jungen Kerl mit weggeschossenem Kinn. Er tauchte sein ganzes auf groteske Weise verwundetes Gesicht in das Hafermehl und versuchte, wie ein Hund etwas davon aufzulecken. Blut und Eiter trieften aus dem Loch, wo einmal sein Kinn gewesen war, direkt in die Schüssel mit Hafermehl hinein.

Das Bauernhaus war voll von Verstümmelten und Sterbenden; auch der Vorraum war belegt; der Schuppen jenseits des Hofes war voll von den Überresten der Wehrmacht, doch auf schaurige Weise still - außer des Nachts, wenn einige hinten im Schuppen im Stroh einige unvergeßliche Melodien ganz leise sangen. Es scheint unwirklich, absurd, aber es war tatsächlich so ... Wer damals den Krieg erlebte, der weiß, daß die Deutschen immer sangen. Heutzutage hört man Deutsche kaum mehr singen, weil ihre Seelen tot sind, aber damals sangen sie noch, leise und sanft, wenigstens einige von ihnen. „Lili Marleen" klang direkt in das Zimmer hinein, wo ich bei offenem Fenster auf einer Pritsche lag und die Ohren spitzte, um den leisen Gesang zu hören.

Eines Tages befahlen die Russen, daß alle, die noch gehen konnte, anzutreten hätten, um irgend wohin abzurücken. Manche gehorchten, andere Verwundete weigerten sich. Nicht lange danach hörten wir Schüsse, einen nach dem anderen. Ich weiß nicht mehr, ob irgendwer herausbekam, was nicht weit von meinem Fenster in einem Hohlweg vor sich ging und habe keine Ahnung, was aus den übrigen Männern im Stroh geworden ist.

Ich sollte Euch auch erzählen, was mit Frau Weber passierte. Meine Oma entdeckte sie in den folgenden Tagen , als sie auf der Suche nach verwundeten Soldaten war - und später nach etwas zu essen. Frau Weber sei tot, sagte Oma; nur halb begraben. Ihr Unterkörper war mit Erde bedeckt, doch Oberkörper und Kopf waren noch erkennbar.

Dann brachte jemand Erika zu uns, die uns erzählte, daß, nachdem ihre Mutter von einer Granate getroffen worden war, sie das Baby aus ihren Armen geschnappt habe und fortgerannt sei. Sie sagte, sie habe nicht gewußt, was sie mit dem Kind tun sollte und konnte sich nicht klar erinnern, was mit ihm geschah - sie meinte, es irgendwo verloren zu haben. Erika war erst zehn Jahre alt, doch, wie ich schon gesagt habe, ganz gut beieinander und ziemlich entwickelt, und die Russen hatten sie auch vergewaltigt, immer und immer wieder. In späteren Jahren bin ich von meiner Mutter oft daran erinnert worden, welches Glück ich hatte, denn ich war so dünn und schlaksig, und niemand hat mich je angerührt - wenigstens, soweit ich weiß!

Erika wurde zuletzt bei einem Transport von rußlanddeutschen Flüchtlingen gesehen, die zurück nach Rußland geschickt wurden. Diese Nachkriegs-Operation ist in der Geschichte als „Keelhaul" bekannt, womit die Alliierten auch die Schwarzmeer-Volksdeutschen, die gerade eben von Deutschen gerettet worden waren, kurzerhand zu Stalin zurückschickten - um mit ihnen nach seinem Gutdünken zu verfahren. Nicht viele von ihnen haben Sibirien überlebt.

Unsere Familie ist „Keelhaul" um Haaresbreite entgangen - indem sie in einer kalten Nacht über die Grenze im Harz zur britischen Zone entfloh. Ich habe das kurz in meinem ersten Roman „The Wanderers" beschrieben.

Es scheint, daß es eine Gruppe junger deutscher Patrioten gibt, die einen stillen Gedenkmarsch zu Ehren der Letzten organisieren, die auf deutschem Boden in dem Blutbad von Halbe kämpften und starben. Diese einfache Geste der Hochachtung vor den Toten ist im zionistisch versauten Deutschland nicht garantiert, denn es ist gar nicht so einfach, eine Genehmigung dafür zu bekommen.

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Ingrid Rimland Zündel, Germania-Brief, Dezember 2009  (Aus dem Englischen übersetzt)



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