Am Obersalzberg, dem symbolträchtigen Schauplatz der Nazi-Diktatur, konvertieren Männer und Frauen zum Judentum

Wen will der US-Rabbi provozieren?

SZ vom 10.8.2007
Von Heiner Effern

Die sechs Männer haben sich an den Händen gefasst und einen Kreis gebildet. Dreimal tauchen sie nun im beheizten Außenpool des Fünf-Sterne-Hotels Intercontinental am Obersalzberg unter. Nebelschwaden steigen aus dem warmen Wasser auf, aus dunklen Wolken prasselt dichter Regen auf das Wasser und die leeren, noblen Holzliegen.

Wieder an der Oberfläche sprechen die Männer rituelle Formeln nach, die ihnen Rabbi Celso Cukiercorn aus Miami vom Beckenrand aus vorträgt. Die Familienangehörigen versuchen, ein paar Fotos von der Zeremonie zu schießen, denn die sechs Männer verlassen wie schon vorher die fünf Frauen das Becken mit einem neuen Glauben: Mit dem rituellen Bad, der Mikwe, sind sie zum Judentum konvertiert. Und das ausgerechnet am Obersalzberg, einem symbolträchtigen Schauplatz der NS-Geschichte.

Zumindest ist Rabbi Cukiercorn, 37, der Auffassung, dass die Zeremonie gültig ist. Er ist eigens für die Konversion, wie der Übertritt zum Judentum bezeichnet wird, nach Deutschland gekommen.

Wie die meisten Juden in Amerika gehört er dem liberalen Flügel seines Glaubens an. Dieser vertritt die Auffassung, dass für den Übertritt nicht eine mehrjährige Vorbereitungszeit mit harten Prüfungen nötig sei, sondern eine gründliche Reflexion und der feste Wille, ein jüdisches Leben zu führen.

"Ich klopfe nicht an fremde Türen, um zur Konversion zu bewegen, aber meine Tür ist für Entschlossene offen. Wer jüdisch werden will, der soll das auch dürfen", sagt Rabbi Cukiercorn und spielt damit auf die meist orthodoxen Gemeinden in Europa an, die auch Bewerber zurückweisen. Auch die Gruppe vom Obersalzberg wird in den meisten Synagogen nicht willkommen sein.

Denn Charlotte Knobloch, Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, reagiert in einer Stellungnahme abweisend: "Nach der jüdischen Gesetzgebung ist eine Konversion auf diese Art und Weise nicht möglich. Wie in allen Religionen gibt es auch im Judentum Sektierer und Selbstdarsteller."

Damit wird klar, wen der Rabbi mit der Mikwe auf dem Hotelgelände, auf dem in der Zeit des Nationalsozialismus die Villa von Reichsmarschall Hermann Göring stand, eigentlich treffen wollte: das orthodoxe Judentum in Europa.

Dass seine Anwesenheit nötig sei, zeige ja, wie der Zustand der hiesigen Synagogen sei, sagt der Rabbi. Wenn sich das Judentum nicht denjenigen öffne, die übertreten wollen, werde es aussterben.

Den Kandidaten erklärt der Rabbi in einem Tagungsraum des Hotels die makaber erscheinende Wahl des Ortes: "Das war Hitlers Platz, von hier kam das Übel, das die Juden in Europa fast vollständig vernichtet hat. Hier soll nun neues jüdisches Leben seinen Anfang nehmen."

Die fünf Frauen und sechs Männer erhoffen sich von Rabbi Cukiercorn das Lebensglück, das ihnen andere jüdische Gemeinden nicht bieten konnten oder wollten. Die in Italien geborene Alessandra Frezza, 27, nun in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba lebend, ist für die Konversion eigens nach Deutschland geflogen. Sie fühlte im Christentum eine innere Leere, die sie nicht zu füllen vermochte, beschäftigte sich mit anderen Religionen und fand im Judentum, was sie suchte.

Doch in Addis Abeba gibt es zwar eine jüdische Gemeinde, aber keinen Rabbi. Da sich sonst niemand in Europa bereit erklärte, den Übertritt zu vollziehen, surfte Alessandra im Internet und fand die Seite von Rabbi Cukiercorn. Sie schickte eine Email und wurde bald zu einem Telefongespräch gebeten. Der Prozess der Konversion begann, ein Studium des jüdischen Glaubens nach Büchern und Unterlagen das Rabbis folgte und wurde von einem Examen mit 100 Fragen zum Judentum abgeschlossen.

Ähnlich erging es auch den anderen aus der Gruppe: Lars Schmidt, 36, aus der Nähe von Köln, fand in Deutschland weder einen Rabbi noch eine Gemeinde, die ihm die Konversion ermöglichten. Rinus de Hooge, 45, aus Amsterdam, machte die gleiche Erfahrung in den Niederlanden.

Nun sind sie zur lange ersehnten Konversion für einen Nachmittag auf den Obersalzberg gekommen. Die Kandidaten verfolgen die Zeremonie "bewegt", wie Alessandra sagt. Nicht alle Männer haben sich zwar für eine Beschneidung entschieden, die ein Arzt zuvor vornimmt. Und das Untertauchen in Badebekleidung in einem Hotelpool entspricht so gar nicht der Mikwe der orthodoxen Juden.

Doch all das kümmert die elf Frauen und Männer nicht: Sie verlassen das Hotel voller Stolz mit neuen jüdischen Namen wie Sarah (Alessandra), Lior (Lars) oder Raphael (Rinus).