"Die Rahmengeschichte is "fiction"; die Argumente beider Seite sind natürlich nachprüfbar." Jürgen Graf, Fax sent to the Zundelsite August 3, 1996


Epilog

Samstag, 25. März

An jenem Samstagmorgen erwachte Margarete Lämple bereits in der Dämmerung. Sie hatte eine unruhige Nacht hinter sich und empfand stechende Kopfschmerzen. Ausgerechnet heute, wo die jungen Leute vorbeikommen, dachte sie. Obgleich nicht sonderlich nervenschwach, war Frau Lämple von den Ereignissen des Vortages doch ziemlich mitgenommen. Immer noch gellten ihr die stundenlang skandierten Sprechchöre der lokalen AntifaGruppe vor ihrem Haus in den Ohren: "Nieder mit dem Faschismus, nieder mit Margarete Lämple!" und "Nie wieder Auschwitz, nie wieder LämpleGeschichtsstunden!" Und dann die beiden Einschreibebriefe vom Vorabend: zuerst das Kündigungsschreiben vom Hausvermieter, und anschliessend der Brief vom Staatsanwalt H.K. aus Mannheim.

Frau Lämple drehte das Licht an und griff nochmals zu dem auf dem Nachttisch liegenden Brief, obgleich sie ihn am Vortag bereits dreimal gelesen hatte: ... Hiermit klage ich die am 16. August 1951 in Jettingen geborene, an der Humboldstrasse 4 in Sanningen wohnhafte Margarete Lämple, unverheiratet, von Beruf Lehrerin, an, sie habe im Rahmen ihres Geschichtsunterrichts bewusst der historischen Wahrheit zuwider, unter zumindest teilweiser Indentifizierung mit den nazistischen Verfolgungsmassnahmen, in laienhafter, pseudowissenschaftlicher Art, getragen von den Tendenzen, den Nationalsozialismus von dem Makel des Judenmordes zu entlasten, gesteigert und intensiv auf die Sinne und Leidenschaften der Zuhörer einzuwirken, unter Leugnung des Vernichtungsschicksals der Juden, unter der Verunglimpfung der Überlebenden des Völkermordes und des Andenkens der während der Massenvernichtung ermordeten Juden, unter der mehrfachen Behauptung, der fortwährende Druck jüdischer Gruppen verhindere das Finden der tatsächlichen "Wahrheit", unter anderem folgendes ausgeführt...

Margarete Lämple stutzte. Ich habe diese Sätze doch schon anderswo gelesen, schoss es ihr durch den Kopf. Dann kam die Erleuchtung.

Sie stieg aus dem Bett und nahm das Heft 1 der Zeitschrift Sleipnir (1) aus dem Regal, das ihr Arturo geschenkt hatte. Richtig, da stand doch auf S. 16 ff. der Wortlaut des im Oktober 1993 in Mannheim ausgestellten Haftbefehls gegen Fred Leuchter. Bis auf die Personalien und einen Teilsatz stimmte der Text haargenau mit jenem der gestern erhaltenen Strafanzeige gegen ihre Person überein. Ganz offenbar wurden bei Haftbefehlen oder Strafprozessen gegen des Revisionismus bezichtigte Personen immer dieselben, dem Computer entnommenen Standardsätze verwendet (2).

Margarete Lämple blätterte weiter in der Anklageschrift und stiess auf folgende Passage (3):

Durch das wahrheitswidrige Leugnen der Existenz der Gaskammern und der damit untrennbar verbundenen systematischen Massenvernichtung von KZHäftlingen, insbesondere Juden, hat die Angeschuldigte der Gesamtheit der jetzt in Deutschland lebenden Juden, die als solche von den Nationalsozialisten verfolgt worden waren, einen nicht unerheblichen Teil ihrer Leiden abgesprochen. Ihre Äusserungen sind nämlich geeignet, diese Personengruppe verächtlich zu machen und in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen. Angesichtgs des Leids, das dieser Personengruppe durch ihre von der Staatsorganisation gezielt geplante Vernichtung angetan wurde und der daraus herrührenden was die Behandlung dieser Ereignisse angeht allseits zu respektierenden besonderen Sensibilität und Verletzlichkeit, hat sie Anspruch darauf, von den staatlichen Organen der Bundesrepublik Deutschland unter Anlegung eines strengen Massstabs in dieser Hinsicht vor subtiler Verhöhnung und Verächtlichmachung wie in vorliegendem Falle geschehen zuverlässig geschützt zu werden. In diesem Lichte kann es keinem Zweifel unterliegen, dass zum Beispiel ein ehemaliger jüdischer Häftling eines der Konzentrationslager wie AuschwitzBirkenau beispielsweise, der dort die Selektion zur Gaskammer überlebt hat und/oder dessen Verwandte oder Freunde darin ermordet wurden, durch das wahrheitswidrige Leugnen jedes Einzelfalls oder der Gesamtheit der in diesem Gaskammern stattgefundenen Vernichtungen menschlichen Lebens eine schwerwiegende Kränkung erfährt. Wie allgemein bekannt ist und an der Einführung des Wegfalls des Erfordernisses des Strafantrags gem. Paragraph 194 Abs. 1 und Abs. 2 StGB durch den Gesetzgeber noch im Jahre 1985 abzulesen, empfindet die unter oben b) bezeichnete Personengruppe in nur unwesentlich abgeschwächtem Masse die fraglichen Behauptungen, gerade aus nationalistischen Kreisen, ebenfalls als schmerzliche Kränkung...

"Hoffentlich bildet sich der alte Esel nicht noch ein, er kriege für dergleichen dichterische Grosstaten den BüchnerPreis", dachte Frau Lämple. Sie seufzte und warf die Anklageschrift hohem Bogen in den hintersten Winkel ihres Schlafzimmers. Dann drehte sie das Licht aus und legte sich wieder ins Bett.

Bald darauf befand sich Margarete Lämple in einem Raum, den sie nie zuvor gesehen hatte. Die Umgebung erkannte sie ganz deutlich wieder, denn in kaum hundert Metern Entfernung erblickte sie das Gymnasium Sanningen, das sie seit dem 8. Februar nicht mehr betreten hatte (4). Der Raum sah äusserlich haargenau wie eine Dusche aus. An der Decke hingen tatsächlich Duschköpfe falsche Duschköpfe natürlich, mit denen man den ahnungslosen Opfern vorgaukelte, sie würden zum Duschen geführt. Ferner war zwischen diesen Duschköpfen völlig eindeutig ein Loch zu erkennen. Das war die Einwurfluke für das todbringende Zyklon B! Auch eine Heizung war in dem Raum angebracht. Damit wurde er vor den Vergasungsaktionen aufgeheizt, um die Verdunstung des Zyklon zu beschleunigen und die unmenschliche Effizienz der nazistischen Todesmaschinerie noch zu erhöhen. Schliesslich wies die Tür ein Guckloch auf. Durch dieses pflegten die SSSchergen offenbar den Todeskampf der Eingeschlossenen zu verfolgen.

Margarete Lämple warf einen Blick durch das Fenster (eigentlich merkwürdig, dass die Todeskandidaten es nie eingeschlagen hatten). Nur wenige Schritte vom Gebäude entfernt, in dem sich der ominöse Raum befand, war eine gut und gern zweieinhalb Meter tiefe Grube zu erkennen. Das war also die Verbrennungsgrube, wo die Leichen der Millionen Opfer rückstandslos eingeäschert worden waren!

Eine Woche zuvor hatte eine von den namhaften Zeitgeschichtsforschern Helmut Auerbach, Walther Hofer, Eberhard Jäckel, Wolfgang Benz und Julius Schoeps geleitete Historikerkommission die ganze, grauenerweckende Wahrheit an den Tag gebracht: In Sanningen lag die Mordstätte der drei Millionen Eskimos, die im Anschluss an den auf der Berliner SchwanenseeKonferenz vom 1. April 1942 mündlich erteilten HimmlerBefehl vergast worden waren! Bisher wusste man nur, dass es diesen HimmlerBefehl gab und dass die drei Millionen Eskimos tatsächlich umgebracht worden waren, doch hatte jeglicher Hinweis auf den Ort des Massenmordes gefehlt. Nun hatte man ihn gefunden. Wenn es noch eines Beweises bedurfte, so waren dies die säuberlich weiss getünschten Wände der Gaskammer. Ganz offenbar hatte man die Eskimos damit in eine der Farbe ihrer natürlichen Umgebung entsprechende und so ihr Misstrauen dämpfende Umgebung gelockt!

Nach der Entdeckung der Vernichtungsanlage in Sanningen kannten die Medien kein anderes Thema mehr. Selbst die Meldung, dass der Bundestag ohne Gegenstimme (bei Stimmenthaltung eines Grünen und einer CSUAbgeordneten, die beide unmittelbar nach der Abstimmung in Schutzhaft genommen worden waren) beschlossen hatte, der UNO gemäss dem Wunsch der USRegierung eine zusätzliche Million Bundeswehrsoldaten für die durch die ständige Verletzung der Menschenrechte durch das Pekinger Regime erforderlich gewordene internationale Befriedungsaktion gegen China zur Verfügung zu stellen, ging im Rummel um die endliche entdeckte Vergasungsstätte fast gänzlich unter. In Sondersendungen aller Fernsehstationen und auf den Titelseiten sämtlicher Zeitungen wurde Ralph Giordanos neues, brandaktuelles Buch Die hundertsiebenundfünfzigste Schuld besprochen, das von der Bundesregierung nach Absprache mit dem Vorstand des Zentralrats der Juden in Deutschland zur obligatorischen Lektüre für alle Bundesbürger zwischen 8 und 88 Jahren erklärt worden war. In der von Lea Rosh moderierten Sendung "Der mündige Bürger hat das Wort Argumente im Widerstreit" diskutierten Ignatz Bubis, Ralph Giordano, Henryk Broder, Michael Friedman, Micha Brumlik und Michael Wolffsohn über das beängstigend aktuelle Thema "Liegt das Morden den Deutschen in den Genen?" Bubis, Giordano und Broder vertraten die "Ja, gewiss"These, Friedman, Brumlik und Wolffsohn die "Ja, höchstwahrscheinlich"These. Der vorbildliche, zwar harte, aber nie die Grenzen der Fairness überschreitende Diskussionsstil der sechs Kontrahenten sowie die ausgewogene Moderation Lea Roshs wurden von der Presse einhellig als Beweis dafür gewürdigt, dass die Demokratie in Deutschland trotz allem noch eine reelle Überlebenschance besitze und eine Intervention der UNO zur Ausmerzung des Neonazismus im Moment noch nicht erforderlich sei.

Nun verschwamm das Bild der Schreckenskammer vor Margarete Lämples Augen, und sie fand sich in einem mächtigen Gerichtssaal wieder. Die vier Gedankenverbrecher standen mit kahlgeschorenem Haupt und in Ketten und Handschellen vor ihrem Richter. Auf ihren Stirnen flammte das Brandmal HL (HolocaustLeugner). Das also waren die Unverbesserlichen, welche die feststehende geschichtliche Tatsache der Vergasung von drei Millionen Eskimos im Vernichtungslager Sanningen aus niedrigen rassistischen Motiven und unter bewusster Verunglimpfung der Überlebenden des Völkermordes sowie des Andenkens der Verstorbenen geleugnet hatten!

Frau Lämple erkannte sie wieder: Links stand der junge Chemiker vom MoritzSchwankInstitut, der, getragen von der Tendenz, den Nationalsozialismus vom Makel des Eskimomordes zu entlasten, in einer pseudowissenschaftlichen Expertise behauptet hatte, das Gemäuer der Sanninger Vergasungseinrichtung enthalte keine signifikanten Zyanidspuren, weshalb im Raum keine Massenvergasungen mit Zyklon B stattgefunden haben könnten.

Rechts von ihm war der Kremationsfachmann zu sehen, der unter zynischer Leugnung des von den Eskimos erlittenen Vernichtungsschicksals geschrieben hatte, die rückstandslose Einäscherung von drei Millionen Leichen in der Verbrennungsgrube vor der Gaskammer sei aus wärmetechnischen und physikalischen Gründen unmöglich gewesen.

Neben dem Kremationsexperten stand der dritte Angeschuldigte, jener Demograph, der unter zumindest teilweiser Identifizierung mit der nationalsozialistischen Rassenideologie und in der Absicht, gesteigert auf die Sinne und Leidenschaften seiner Leser einzuwirken, in laienhafter Art die wahrheitswidrige These aufgestellt hatte, es hätten zur Zeit des Zweiten Weltkrieges überhaupt keine drei Millionen Eskimos auf der Welt gelebt, schon gar nicht im deutschen Einflussbereich, und eine merkliche Abnahme der Eskimobevölkerung während jener Jahre sei statistisch nicht nachweisbar.

Ganz rechts stand gesenkten Hauptes der dissidente Historiker, der unter subtiler Verhöhnung und Verächtlichmachung all jener Eskimos, welche die Selektion zur Gaskammer von Sanningen überlebt hatten und deren Verwandte und /oder Freunde in besagter Gaskammer ermordet worden waren, behauptet hatte, es gebe nicht den allergeringsten dokumentarischen Beweis für die Vergasung auch nur eines Eskimos geschweige denn von drei Millionen durch die Nazis, und dieser Holocaust sei folglich ein "Mythos".

Auf die Frage des Staatsanwalts H.K., ob sie sich der Vertretung genannter Thesen für schuldig bekennen würden, antworteten die vier Angeklagten durchwegs mit einem leisen, aber bestimmten Ja. Der Verteidiger begnügte sich mit einem einzigen Satz: "Da die Angeklagten ihre Schuld freiwillig und ohne jeglichen Zwang zugegeben haben, erübrigt sich eine Verteidigung."

Ursprünglich waren die Angeschuldigten von den Rechtsanwälten Falko Hartmann, Gundolar HertogenriedAmalung und Jochen Rittter vertreten worden, doch als diese unter bewusster Kränkung der Überlebenden des EskimoHolocaust die Erbringung von Sachbeweisen für letzteren forderten und sich somit zumindest teilweise mit dem rassistischen Gedankengut ihrer Mandanten identifizierten, ordnete der Bundespräsident ihre sofortige Vergasung sowie ihre Ersetzung durch einen staatlich bestimmten Verteidiger an. Der Bundespräsident betonte übrigens in einem Gespräch mit der Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung, dass er diese Massnahme mit der ausdrücklichen Billigung von Ignatz Bubis und Michael Friedman getroffen hatte.

Die Spannung im Gerichtssaal stieg bis ins Unerträgliche, als der betagte Professor Wolfgang Scheffler, Deutschlands HolocaustFachmann Nummer eins und Sachverständiger bei zahllosen Prozessen gegen Naziverbrecher, in den Zeugenstand berufen wurde. Schefflers Beweisführung war ein Meisterstück. Punkt für Punkt und streckenweise mit ätzender Ironie zerpflückte er die pseudowissenschaftlichen Argumente der vier HolocaustLeugner.

Zunächst wandte sich Scheffler den Thesen des Chemikers zu und widerlegte diese gleich dreifach. Erstens hätten die Zyanidverbindungen die seit der Einstellung der Vergasungen verflossenen Jahrzehnte nie und nimmer überstehen können, weshalb nur logisch sei, dass sich in Proben aus dem Mauerwerk der Gaskammer keine relevanten Zyanidspuren mehr feststellen liessen. Zweitens sei allgemein bekannt, dass die Nazis die Gaskammer von Sanningen zwecks Vertuschung ihrer Greueltaten gesprengt und die Trümmer restlos beseitigt hätte. Die heute von den Touristen besuchte Gaskammer sei eine museale Rekonstruktion. Drittens und dies sei der alles entscheidende Punkt hätten die Opfer das Zyklon vor ihrem Tod restlos eingeatmet, was sich durch das völlige Fehlen relevanter Zyanidkonzentrationen in den analysierten Proben aus dem Mauerwerk einwandfrei beweisen lasse.

Nicht minder schonungslos rückte Scheffler anschliessend der pseudowissenschaftlichen Argumentation des Kremationsexperten zu Leibe. Anhand des Augenzeugenberichts von Filip Müller wies er unwiderlegbar nach, dass die Nazis im Frühsommer 1944 in Auschwitz täglich Tausende und Abertausende von Leichen unter Verwendung von Methanol und kochendem Menschenfett in tiefen Gruben rückstandslos eingeäschert hatten. "Wenn dies in Auschwitz möglich war", rief Scheffler in heiligem Zorn aus, "dann war es in Sanningen zweifelsohne auch möglich.

Nur ganz kurz, und mit eisiger Verachtung in der Stimme, ging der Sachverständige auf die abwegigen Behauptungen des Demographen ein. "Erstens ist die Vernichtung von drei Millionen Eskimos als offenkundige geschichtliche Tatsache nicht mehr beweisbedürftig", stellte er klar und fügte dann schneidend hinzu: "Und zweitens: selbst wenn auch nur ein Eskimo ermordet worden ist, ist es schon einer zuviel!"

Der Beifall im Gerichtssaal nahm orkanartige Dimensionen an, und die Reporter von SPIEGEL, STERN, BILD, WELTWOCHE und ZEIT balgten sich mit ihren Photoapparaten und Kameras um einen Platz in der Nähe des erlauchten Geschichtsforschers. Ihren Höhepunkt erreichte Schefflers Kunst der Beweisführung, als er die These des dissidenten Historikers, das völlige Fehlen dokumentarischer Beweise für die Eskimoausrottung entlarve jene als Mythos, der Lächerlichkeit preisgab.

Scheffler wies akribisch nach, dass gerade dieses Fehlen von Dokumenten die Schuld der Nazihenker in ganz besonders düsterem Licht erscheinen lasse: "Dass keine Dokumente über den Holocaust von Sanningen erhalten sind", donnerte der Sachverständige in die Runde, "beweist, dass die Nazis entweder alle bestehenden Dokumente beseitigt oder aber, und dies scheint mir ungleich wahrscheinlicher, überhaupt keine solche erstellt und ihre Mordbefehle nur mündlich erteilt haben. Dies wiederum erbringt den glasklaren Beweis dafür, dass sich die Nazis der Verwerflichkeit ihrer Taten voll und ganz bewusst waren, denn wären sie dies nicht gewesen, so hätten sie Dokumente sicher auch auf das Risiko hin angefertigt, dass diese nach einer allfälligen Niederlage Hitlerdeutschlands den Befreiern in die Hände gerieten. Doch dieses Risiko wollten die Nazis eben nicht eingehen, weil sie nämlich ganz genau wussten, dass dokumentarische Beweise für den EskimoGenozid sie moralisch aufs schwerste belasten würden. Somit ist einwandfrei nachgewiesen, dass es für diese Untat der Nazis keine wie auch immer gearteten subjektiven mildernden Umstände gibt und dass es sich folglich um vorsätzlichen, kaltblütigen Völkermord gehandelt hat. Wozu, meine Damen und Herren, denn sonst diese perfekte Geheimhaltung? Eine dermassen einzigartige Geheimhaltung kann keinen anderen Zweck verfolgen als die Vertuschung eines einzigartigen Verbrechens, und dieses einzigartige Verbrechen ist eben der beispiellose Mord an drei Millionen unschuldigen Eskimos in der Gaskammer von Sanningen!"

Hier wurden die "Da capo, da capo!" Rufe so unüberhörbar, dass Scheffler sich dem Willen der Anwesenden schmunzelnd fügte und den sein gesamtes Plädoyer wiederholte. Der anschliessende Jubel wollte kein Ende nehmen. Und Margarete Lämple erkannte im Publikum eine junge Dame im AbiturientinnenFestgewand, die Wolfgang Scheffler zuwinkte und ihm eine rote Rose zuwarf.

War sie es oder war sie es nicht? Ja, es war Klara.

Nach einer einstündigen Pause neigte sich der Prozess seinem Abschluss zu: Nun sollte das Urteil verlesen werden. In Anbetracht der von Presse, Radio und Fernsehen wie auch vom Zentralrat der Juden in Deutschland einmütig geäusserten Auffassung, dass für ein Verbrechen wie das vorliegende wirklich nur eine einzige Strafe, nämlich die Höchststrafe, in Frage komme, ja dass die Höchststrafe eigentlich noch viel zu niedrig sei, herrschte zwar wenig Zweifel über den bevorstehenden Urteilsspruch, aber dennoch hörte man die Spannung im Saale förmlich knistern, als sich der Richter mit grimmig entschlossener Miene anschickte, das Verdikt zu verlesen.

"Ich bitte um Ruhe, meine Damen und Herren", mahnte er die Anwesenden. Als das Gesumme im Saal dennoch nicht verstummen wollte, wiederholte er seine Aufforderung in ärgerlichem Ton und liess als Zeichen dafür, dass er es ernst meinte, die Glocke energisch läuten.

Margarete Lämple schreckte aus dem Schlaf hoch. Um Himmels willen, waren das etwa schon die jungen Leute, die sie um drei Uhr erwartete?

Eilends schaltete sie das Licht ein und warf einen Blick auf die Uhr. Zehn vor sieben!

Abermals klingelte es, und zwar bedeutend heftiger als das erste Mal. Wer in drei Teufels Namen mochte das an einem Samstagmorgen sein? Der Briefträger mit einem neuen Einschreibebrief?

Es half nichts; Frau Lämple stieg mit einem unterdrückten Kraftwort auf den Lippen aus dem Bett, schlüpfte hastig in den Morgenrock und die Pantoffeln und schritt seufzend zur Tür. Nun klingelte es ein drittes Mal, ungeduldig und drohend.

Hoffentlich ist es der Briefträger, dachte Margarete Lämple. Sie schob den Riegel zurück und öffnete die Tür. Es war nicht der Briefträger.