Oswald Spengler

Politische Pflichten der deutschen Jugend. (Gekürzt)


Rede vom 26. 02. 1924 vor dem Hochschulring Deutscher Art in Würzburg. (Quelle: Politische Schriften, C. H. Beck, 1934)


. . . Wir erleben (heute) ein Schauspiel, das noch niederdrückender ist (als der Verlust) jeden Maßstabes für Größe und Würde. Wir haben verlernt und vergessen, was wir gestern noch als Volk inmitten der Weltvölker gewesen sind.

Wir sind nicht nur elend, wir sind auch ehrlos geworden. Das Mannesrecht, das jedem Zwergvolk zugestanden wird, sich mit der Waffe in der Hand zu schützen, ist uns genommen worden. Wir gehören nicht mehr in die Reihe der selbständigen Nationen. Wir sind das bloße Objekt des Willens, des Hasses und der Beutelust anderer geworden.

Während rings in der Welt die Heere und Flotten für neue Entscheidungen gerüstet werden, bezahlen wir mit deutschem Geld auf deutschem Boden fremde Heere* - (* Im Original: "ein französisches Heer") das ist unser Antimilitarismus. Und wie viele unter uns gibt es, die das mit brennender Scham empfinden?

Für Unzählige ist es ein Zustand, mit dem man sich abfinden muß und kann, um in seinem Schatten ein kleines Winkelglück aufzubauen. Wir besitzen seit Jahren ein System des Regierens, mit dem sich trotz des Elends und der Schande vortrefflich leben läßt - wenn man dazu gehört. Es gibt Tausende , die sich in Partei- und Staatsstellen, durch Diäten und gute Beziehungen davon nähren, und Tausende, welche die Lage für ihre Privatgeschäfte durchaus nicht so finden, daß sie eine Änderung wünschen sollten . . .

Es ist unter den tröstlichen Zügen der Gegenwart vielleicht der trostreichste, daß dieses Sichabfinden mit einem schmachvollen Schicksal in keiner Schicht des Volkes so wenig Zustimmung findet wie unter der Jugend (Anmerkung: 1924!) . . . Darin liegt für mich die Hoffnung begründet, daß die Deutschen, das jüngste und das unverbrauchteste unter den Völkern Europas, durch die heranwachsende Generation einst wieder in die Lage versetzt werden wird, eine geschichtliche Rolle zu spielen, die seiner inneren Kraft, seiner trotz allem ungebrochenen Gesundheit und seinen schöpferischen Eigenschaften angemessen ist..

Wenn sich aber diese Sendung, die ihr nach meiner innersten Überzeugung vorbehalten ist, eines Tages erfüllen soll, dann muß die Jugend sich darüber klar sein, wie unendlich hart, lang und entsagungsvoll der Weg ist, wie wenig leicht man sich diese Aufgabe machen darf, und was alles man wissen und können muß, um für ein. . . Land den Aufstieg zu einer größeren Zukunft zu finden. Es ist Ihre heilige Pflicht, meine Herren, sich dafür nicht nur zu begeistern, sondern zu erziehen! Das bloße Wollen führt zu nichts. Politik ist eine schwere und schwer zu erlernende Kunst.

Wer die für unser Vaterland notwendigen Ziele und Mittel erkennen will, bedarf zuerst eines sicheren Blickes auf die in ungeheuren Spannungen liegende Welt . . . Und das Schicksal Deutschlands ist bei seiner geographischen Ungunst, seiner militärischen Ohnmacht. . . in dem Grade von der äußeren Entwicklung abhängig, daß jede Beschränkung des Blicks auf innere Zustände und Ideale mit einem Mißerfolg gleichbedeutend ist . . .

(Der) politischen Wendung entspricht eine wirtschaftliche von gleicher Tragweite, welche auch den wirtschaftlichen Stil des 19. Jahrhunderts ebenso verwandelt hat, wie die napoleonische Zeit den des 18. Wir sind heute noch vorwiegend der Meinung, daß "der Marxismus" der eigentliche Gegner der bestehenden sozialen und ökonomischen Ordnung sei. Das ist seit wenigen Jahren ein veraltetes Bild. Der Gang der wirtschaftlichen Entwicklung zeigt einen überraschenden Zug, sobald man sich von den Vorstellungen der durch und durch materialistischen Nationalökonomie des vorigen Jahrhunderts frei macht und die Tatsachen der letzten 200 Jahre auf ihre tiefere Bedeutung hin unbefangen prüft . . .

Das völlig neue, das viel tiefer geht als alles, was Marx jemals beobachtet hat, ist die geistige Ablösung des Besitzes vom Gegenstand: Seit der französischen Revolution beginnt zwischen Menschen und Dinge das Wertpapier in Gestalt von Aktien, Anteilen , Pfandbriefen und Banknoten einzudringen . Die Eigentumsbeziehung wird unsichtbar , und im Laufe des 19. Jahrhunderts hat sich etwas herausgebildet, das früher überhaupt nicht bekannt war, die Erscheinung der beweglichen, vom Ort und den Dingen unabhängigen, in Gegenständen nur "angelegten", und zwar mit der Möglichkeit jederzeitigen Wechsels angelegten, nur durch die Höhe, nicht die Art bestimmten Vermögen. Heute wie ehemals kann eine Fabrik im Lande liegen und arbeiten, und trotzdem weiß niemand, wem sie gehört, denn die Eigenschaft des Besitzes ist in der Gestalt von einigen tausenden Papierstücken abgelöst und haftet an diesen, die im Laufe weniger Stunden aus einer Hand in die andre, aus einem Lande in das andre wandern können, und die seit Einführung des elektrischen Nachrichtendienstes auch noch unter mündlicher Ablösung der Besitzeigenschaft von der sichtbaren Werturkunde die erstere in einigen Minuten (heute Sekunden!) in fremde Erdteile zu verlegen gestatten, so daß sie nun unsichtbar und ungreifbar über die ganze Erde hin wechseln kann, während die Fabrik unabhängig davon und ahnungslos fortarbeitet. Daraus hat sich eine Tatsache entwickelt, welche heute auf der Höhe steht und nicht nur die wirtschaftliche, sondern längst auch die politische Lage völlig beherrscht.

Wir haben in Deutschland wie in allen wirtschaftlich fortgeschrittenen Ländern heute schon mehr bewegliches als unbewegliches Vermögen. Von dem Nationalbesitz, soweit er uns geblieben ist, befindet sich zweifellos mehr als die Hälfte in der Hand von Menschen, welche die Gegenstände, zu denen sie augenblicklich im Besitzverhältnis stehen, weder bearbeiten noch überhaupt kennen, sondern die sie in Gestalt von Papieren oder gar Verabredungen nur "haben", um durch geschäftliche Veränderung dieses Habens ganz unabhängig von der an den Gegenstand gebundenen produktiven Arbeit Vorteile zu erzielen.

Nationalgut, soweit es in Dingen innerhalb der Grenzen liegt, und Nationalgut, soweit es die Summe der Volksangehörigen besitzt, sind also zwei ganz verschiedene Größen geworden. Wieviel von der deutschen Industrie Deutschland gehört, weiß niemand. Das ändert sich von einem Börsentag zum andern. Es ist demnach nicht mehr so, wie Marx es darstellt, und zwar aus dem Bedürfnis heraus, eine theoretische Unterlage für den Klassenkampf zu erhalten, daß zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ein natürlicher Gegensatz bestehe; er besteht heute viel mehr zwischen den Menschen, die sichtbar produktive Arbeit leisten, ob als Führer oder Geführte, als Unternehmer, Techniker oder Werkleute, und der viel kleineren Zahl von Unbekannten, die weder dies noch jenes sind, die aber das Werk haben, für die also gearbeitet wird, obwohl sie von der Art dieser Arbeit gar nichts wissen. Diese Ablösung des Besitzes vom Werk untergräbt und vergiftet die eigentlich produktive, am Heimatboden, an Äckern, Bergwerken, Betriebsstätten haftende Arbeit der heutigen Nationen.

Solange zu jedem Werk jemand gehört, der als Eigentümer dafür sorgt, läßt sich von nationaler Arbeit sprechen. Aber ein bewegliches Vermögen, das durch ein Telegramm in einem Augenblick von Berlin nach New York verlegt werden kann, ist nicht mehr national. Es hat sich vom Boden gelöst, es schwebt in der Luft, es ist eine unfaßbare Größe. Und wenn die Entwicklung in dieser Richtung bis ans Ende schreitet, so daß in den großen Wirtschaftsgebieten auch die letzten Teile der Nationalvermögen von den Dingen gelöst werden, dann ist eine Form der Wirtschaft erreicht, welche das Mark auch des stärksten Volkes rasch aufzehrt. Heute schon arbeitet der überwiegende Teil der Deutschen, Engländer und Amerikaner, vom Unternehmer bis zum Gelegenheitsarbeiter, für Menschen, die er nicht kennt und die einander unbemerkt ablösen. Auch der Erfinder und Unternehmer setzt seine Lebensarbeit für Unbekannte ein, und so vermag eine kleine Zahl von Menschen über die Erde hin mit den einzelnen Nationalvermögen und damit dem Schicksal der Nationen selbst zu spielen.

Die beweglichen Vermögen, welche hinter den Banken, Konzernen und Einzelwerken stehen, haben in einem Umfange, von welchem die Öffentlichkeit nichts ahnt, die politischen Einrichtungen, Parteien, Regierungen, die Presse, die öffentliche Meinung unter ihren Einfluß gebracht. In allen Ländern mit entwickelter Industrie, Plantagenwirtschaft oder ausgedehntem Handel diktieren sie die Gesetze, die sich irgendwie auf Gewinne und Abgaben beziehen. Sie haben unter dem Schlagwort: "Belastung der starken Schultern" eine Steuerpolitik volkstümlich gemacht, die infolge ihrer Methoden die unbeweglichen, also sichtbaren und greifbaren Vermögen zugunsten der beweglichen, nicht erfaßbaren belastet; sie drängen die Wirtschaftsgesetzgebung unvermerkt in eine Richtung, die immer größere Teile des festen Nationalgutes von den sichtbaren Dingen löst und als internationales Vermögen in Fluß bringt, sei es auch nur in der Form von Krediten, um sich dann auf Kosten der am Orte haftenden Arbeit den Lasten und Pflichten zu entziehen. Es könnte eines Tages so weit kommen, daß das ganze Volk arbeitet, ohne zu wissen, für wen und wofür....

Wer das Schicksal Deutschlands wenden will, hat ohne Utopien und Hirngespinste, mit der genauesten, nüchternen Kenntnis der Wirtschaftszusammenhänge und einer großen Erfahrung in ihnen anzusetzen, um das zu retten, was unser Wohlstand seit 1870, seit wir ein Weltvolk geworden waren, uns aufzubauen gestattete, den eigentlich tragenden Teil des Volkes, der es gewohnt war, fleißig, bescheiden, ehrlich zu arbeiten, der durch sein Organisationstalent, seinen Erfindergeist, sein diszipliniertes Denken und Tun die Voraussetzung für eine Regierung mit großen Forderungen und Zielen gebildet hat.

Als Drittes und Wichtigstes bitte ich Sie, endlich einmal ernsthaft und kühl das ins Auge zu fassen, was man die Kunst des Regierens nennen sollte. Der Begriff ist uns und nicht nur uns abhanden gekommen. Wir reden von Volksrecht, Volksvertretung, Volkswillen und haben im Lärm des modernen Parteigeschwätzes völlig vergessen , daß es sich hier nicht um einen Anspruch auf Vorteile , sondern auf Ausübung sehr schwerer und seltener Fähigkeiten handeln darf. Diese Fähigkeiten müssen da sein, angeboren oder in langer Selbstzucht erworben, sonst werden Rechte zu Verbrechen. Daß ein Staat sich in dem beständigen immer härter werdenden Ringen um seine Weltgeltung, um sein Dasein in guter Verfassung befindet, nicht ob er eine Verfassung hat, entscheidet über seine Zukunft.

Der Staat des 18. Jahrhunderts wurde wirklich oder scheinbar absolut von Fürsten und ihrer Umgebung regiert, und zwar nach ungeschriebenen Methoden, die sich im Laufe vieler Jahrzehnte zu einer hohen, durchgeistigten Kunst ausgebildet hatten, von der heute noch alles zehrt, was sich Diplomatie nennt. Dem Grundsatz: "Alles für, nichts durch das Volk" stellt dann die Wende von 1789 das Wort von der Souveränität des Volkes entgegen, das sofort und zwar in bezeichnend tragischem Mißverständnis für die ganze Folgezeit durch die Girondisten dahin verdreht wurde, daß die leitenden Stellen den wirklichen oder angeblichen Willen des Volkes nicht etwa auszuführen hätten , sondern daß sie mit dessen Worführern besetzt würden, gleichviel, ob diese von der politischen Geschäftsführung etwas verstanden oder nicht.

An Stelle des von Fürsten berufenen Staatsrates, der auch in den schlechtesten Fällen ein hohes Niveau besaß, traten gewählte Körperschaften; die Freiheit der Fürsten wich der Freiheit der Völker - ein großer Gedanke, der seinen begeisternden Schatten über das ganze folgende Jahrhundert warf. Dieses Jahrhundert war bestimmt, das Ideal zu verwirklichen, und der heutige Parlamentarismus offenbart, wie die Idee vor der Wirklichkeit bestand. Aus Gruppen ehrlicher Schwärmer in amerikanischen Blockhütten, in französischen Salons, an deutschen Biertischen, die für ein Ideal lebten und unter Umständen starben, entwickelten sich Gruppen von Berufspolitikern und Stellenjägern, selbsternannte Volksführer, die nicht dafür, sondern davon leben wollten.

Parteien waren zuerst begeisterte Einheiten des Denkens und Wollens. Heute sind sie rings auf der Erde Gewerkschaften von einigen tausend Menschen mit einem Schwarm bezahlter Parteibeamten, welche die Meinung der Völker nicht vertreten, sondern in der Richtung ihrer persönlichen Interessen hervorrufen, lenken und ausnützen. Die Freiheit der Völker, für welche die Väter ihr Blut vergossen, hat sich in eine drückende Abhängigkeit von dem Klüngel . . . verwandelt. Die fürstliche Willkür, Genußsucht und Torheit, mochte sie gelegentlich noch so schlimm sein, ist durch Schlimmeres ersetzt worden, und ein neuer Bastillesturm wäre längst gegen diese Gemeinschaften losgebrochen, hätten sie nicht alle Voraussetzungen, welche den ersten hervorriefen, die Bearbeitung der öffentlichen Meinung, die volkstümlichen Schlagworte, die Wahlmasche, rechtzeitig in ihren Besitz gebracht, um die große Masse in einer Stimmung zu erhalten, die ihnen die Fortdauer ihrer Lebensführung und Gewinne sicherte, von den Schlössern und Bestechungsgeldern französischer Abgeordneten bis zu den Autos und Aktienpaketen deutscher Proletarier und den Aufsichtsratsstellen deutscher Spießer in den bürgerlichen Parteien, die immer alles zuerst erfuhren.

Eine wachsende Ernüchterung und tiefe Sehnsucht geht heute durch die Völker der Welt, von diesem Druck selbstsüchtiger und schmutziger Interessen befreit zu sein, von diesen geschlossenen Organisationen, welche die erdrückende Mehrheit trotz des Gaukelspiels allgemeiner Wahlen und einer freien Presse - die davon schweigt, wem sie wirklich dient - rücksichtsloser entmündigt haben, als es je ein Fürst im Zeitalter des aufgeklärten Despotismus gewagt hätte, eine Sehnsucht danach, an Stelle dieser Gewerkschaften eine Persönlichkeit zu sehen, die nicht reich werden, sondern regieren will, aus dem Gefühl überlegener Fähigkeiten heraus, die nach dem Worte Friedrichs des Großen endlich wieder begehrt, ein Diener des Staates zu sein, nicht dessen Nutznießer, und nicht der Geschäftsführer einer Partei.

Das ist das Ende der Demokratie, nicht ihr Sturz, sondern ihr unwiderruflicher innerer Zerfall, der es künftig gestattet, ihre Formen um so sorgloser bestehen zu lassen, je weniger sie bedeuten. Vor dem Kriege wäre das nicht verstanden worden; heute dringt es in die Köpfe, wohin man blickt, in Europa wie in Amerika, wo die Farmerbewegung im Grunde dasselbe will wie der italienische Fascismus. Die besten Deutschen und nicht die Deutschen allein, warten darauf, einen Mann erscheinen zu sehen, dem man das Schicksal des Landes in die Hände legen darf, mit der Vollmacht, jeden abzuweisen, der im Interesse einzelner Gruppen diese Macht zu beschneiden sucht. Das 18. Jahrhundert war das der Fürstenfreiheit; das 19. Jahrhundert brachte die Freiheit der Völker - am Anfang als Morgenröte eines Ideals, am Ende, was unerbittlich gesagt werden muß, als Hohn auf dieses Ideal. Das 20. wird an die Stelle dessen, was aus dieser Freiheit geworden ist, die Freiheit der großen Persönlichkeit setzen, die Freiheit, welche Bismarck dem Parlament vergeblich abzuringen suchte, die Rhodes nur in Südafrika fand; an Stelle der Parteien die Gefolgschaft von Einzelnen, an Stelle des Regierens als Recht, das in Schmutz und Torheit versunken ist, das Regieren als Kunst, als Aufgabe, als Sendung . . .

Fortsetzung hier . . .